Diplomatie auf Schienen – Gotthardbahn und Aussenpolitik

Wenn am 1. Juni 2016 der Gotthard-Basistunnel feierlich eröffnet wird, markiert dies den aktuellen Höhepunkt einer Entwicklung, die über eine reiche Geschichte verfügt. Der Bau einer Eisenbahnlinie durch die Schweizer Alpen war bereits im 19. Jahrhundert ein Grossprojekt von europäischer Dimension. Entsprechend eng war seine Durchführung mit aussenpolitischen Erwägungen verknüpft. Die Forschungsgruppe der Diplomatischen Dokumente der Schweiz hat die Ressourcen zum Bau der Alpentransversalen auf ihrer Online-Datenbank Dodis (dodis.ch) auf den grossen Anlass hin frisch aufbereitet: Über 200 Schriftstücke von Bundesrat, Militär und Verwaltung, der Gesandtschaften, aber auch privater Initianten bieten Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Alpenbahnen. Sie sind unter den Stichworten Gotthardbahn (Planung: dodis.ch/T1401 und Bau: dodis.ch/T1402), Gotthardvertrag (dodis.ch/T1403) und Simplonbahn (dodis.ch/T1404) erschlossen.  

«Bald die verödetste Kette des Alpengebirges»? 

Die Idee, eine alpenquerende Eisenbahn zu errichten, ist älter als der Bundesstaat. Bereits 1845/1847 hatten die Kantone St. Gallen, Graubünden und Tessin sowie das Königreich Sardinien entsprechende Konkordate für eine Linie durch die Ostschweiz abgeschlossen (dodis.ch/41435). Nach der Lancierung der Brenner- und Mont-Cenis-Eisenbahnlinien drohte der Schweiz die verkehrstechnische Isolation. Bundespräsident Jakob Stämpfli fürchtete 1859, das Land werde «bald die verödetste Kette des Alpengebirges» sein (dodis.ch/41357). Dennoch bleib die Landesregierung ein äusserst passiver Akteur. Den Bau der Lukmanierlinie durch das Rheintal, «unter den Kanonen Österreichs», erachtete der Bundesrat als militärpolitisch zu riskant (dodis.ch/41191). Auch private Eisenbahnunternehmer wie Alfred Escher standen einer Alpenbahn skeptisch gegenüber. Sie fürchteten den hohen Finanzbedarf und das Risiko einer späteren Verstaatlichung (dodis.ch/41360). 

Die Schweiz, «die sich nie selber verstehen konnte»  

Ohne finanzielle Beteiligung der Nachbarstaaten konnte eine Eisenbahnlinie durch die Alpen nicht errichtet werden. Dementsprechend wichtig war das Lobbying an Höfen wie in Turin (dodis.ch/41423) und Stuttgart (dodis.ch/41766). Nun standen die Splügen- und die Gotthardroute im Vordergrund, wobei Italien 1866 letzterer den Zuschlag geben wollte (dodis.ch/41539). 1869 verkündete auch Otto von Bismarck apodiktisch: «Ich werde für den Gotthard stimmen» (dodis.ch/41717). Der Bundesrat wollte allerdings weiterhin keiner Route den Vorzug geben (dodis.ch/41730). Bau und Betrieb der Eisenbahnen sei «den Kantonen und der Privatthätigkeit überlassen worden», die Landesregierung habe «bei den Concessionsertheilungen [..] keinerlei Einfluss» (dodis.ch/41710). Italien und Deutschland wünschten sich dagegen mehr Initiative bei der Festlegung der Linienführung (dodis.ch/41709). «Es ist die Schweiz, die sich nie selber verstehen konnte!», empörte sich Italiens Premier Luigi Federico Menabrea über den föderativen Wankelmut (dodis.ch/41686, Original Französisch). 

«Die Alpenpforten der Völkerströmung aufzuschliessen» 

An der Berner Gotthardkonferenz, die am 13. Oktober 1869 endete, wurden der Finanzierungsplan und -schlüssel sowie zahlreiche technische Details für den Bau der Gotthardbahn beschlossen (dodis.ch/41745). Neben privaten Investitionen über 102 Millionen Franken wurde die geplante Bahn von Italien mit 45 Millionen, von Deutschland und der Schweiz mit je 20 Millionen subventioniert. Kleinere Beträge steuerten die Kantone und einige Städte bei. Diejenigen Kantone, die 1870 noch keine Subventionen in Aussicht gestellt hatten, ermahnte der Bundesrat «nachdrucksamst», nun sei der Moment gekommen, «wo die Schweiz den Beweis zu leisten hat, dass auch ein kleines, mit freiheitlichen Institutionen ausgestattetes Land sich an ein Werk wagen dürfe, das den bedeutendsten seiner Art beizuzählen ist», um «die Alpenpforten der Völkerströmung aufzuschliessen und den Weltverkehr zwischen Süd- und Nord, den Bedürfnissen und den technischen Fortschritten der Gegenwart entsprechend, ungehemmt u. freundlich zu vermitteln» (dodis.ch/41749). 

Die Arbeiten am Gotthardtunnel – Finanzschwierigkeiten und Arbeiterunruhen 

1872 begannen die Arbeiten am Gotthardtunnel. Bereits in der Anfangsphase bedrohten regionalpolitische Interessen in Italien die Finanzierung des Projekts (dodis.ch/41896). Ende 1875 tauchten Gerüchte auf über die missliche Finanzlage der Gotthardbahn, die Anfang 1876 in der europäischen Presse als «Eisenbahncalamität» ein Thema war (dodis.ch/42063). Der Gesandte in Berlin schlug vor, durch einen «geschickten und absolut discreten Litteraten» Gegenmitteilungen im schweizerischen Sinn in den Zeitungen zu platzieren (dodis.ch/42069). Da der Kostenvoranschlag massiv zu niedrig angesetzt gewesen war, musste das Gotthardprojekt gekürzt werden (dodis.ch/42084). Die Vertragsstaaten hatten 1877 dennoch Nachsubventionen über weitere 28 Millionen zu berappen (dodis.ch/42097). Zusätzlich kam es im Juli 1875 in Göschenen zu Arbeiterunruhen (dodis.ch/C1398), ausgelöst durch die katastrophalen hygienischen Verhältnisse bei der Einquartierung und die schlechte Frischluftversorgung im Tunnel (dodis.ch/42061). Das harte Eingreifen des Militärs führte zu scharfen Angriffen der Presse und Spannungen mit Italien, von wo die meisten Arbeiter rekrutiert wurden (dodis.ch/42056). Am 1. Juni 1882 erfolgte die Eröffnung der Strecke. 

Die Verstaatlichung der Gotthardbahn 

Nach dem Erlass des neuen Eisenbahngesetzes von 1898 und der Gründung der SBB 1902 erachtete es der Bundesrat als souveränes Recht, die Gotthardbahn zu verstaatlichen. Für die noch bestehenden Rechte der Subventionsstaaten sollten finanzielle Entschädigungen geleistet werden (dodis.ch/42823); eine Rückerstattung der Subventionen lehnte der Bundesrat aber vehement ab (dodis.ch/42864). Nach jahrelangem Schweigen (dodis.ch/43086) verweigerten Deutschland und Italien kurz vor dem geplanten Verstaatlichungstermin der Schweiz ihren Rechtsanspruch und stellten eigene Forderungen (dodis.ch/43094). Unter Druck berief der Bundesrat im Frühjahr 1909 eine Konferenz in Bern ein (dodis.ch/43098). Der dort neu ausgehandelte Gotthardvertrag räumte Italien und Deutschland als Ausgleich für den Verzicht auf eine Beteiligung eine Reihe von Tarifvergünstigungen und weiterer Vorteile ein (dodis.ch/43106). Die Ratifikation des Vertrags wurde in der Schweiz heftig bekämpft und erfolgte erst 1913 (dodis.ch/43233). Bestechungsvorwürfe wurden laut (dodis.ch/43137), die Verletzung der Neutralität und die Preisgabe nationaler Souveränität wurden beklagt (dodis.ch/43214).  

Der Transit durch den Gotthard im Zweiten Weltkrieg 

Eine grosse Bedeutung kam dem Transitverkehr durch die Schweiz im Zweiten Weltkrieg zu (dodis.ch/C1400). Im Juni 1940 schlug Gottlieb Duttweiler General Guisan vor, dass Massnahmen getroffen würden, «den Gotthardtunnel und Simplontunnel in seiner ganzen Länge [...] zu sprengen und zwischen dem Geröll Minen anzubringen» (dodis.ch/18582). Der Güterverkehr war eine wichtige Einnahmequelle für die SBB. An einer Konferenz in München wurde im April 1941 eine tägliche Anzahl von 27 die Schweiz querenden Kohlezügen nach Italien vereinbart (dodis.ch/18584). Das dadurch erzeugte «Wohlwollen» der Achsenmächte sah man 1943 mitunter als Grund, «dass unser Land bis heute noch nicht angegriffen wurde» und die Versorgung der Schweiz mit Rohstoffen gewährleistet blieb (dodis.ch/18588). 1944 geriet die Schweiz von Seiten der Alliierten unter Druck, die Kapazitäten stark zu reduzieren. An Verhandlungen in London ging die schweizerische Delegation weitgehend auf die Vorschläge ein: «Wir werden uns immer an jede neue Situation anpassen» (dodis.ch/47721, Original Französisch) 

Eine neue Alpentransversale? 

Zu Beginn der 1970er Jahre wurde die Planung neuer Eisenbahntunnels durch die Alpen zur Steigerung der Transportkapazität intensiviert. Der Bundesrat setzte eine Arbeitsgruppe ein, die sich 1970 deutlich für einen Basistunnel durch den Gotthard entschied. Wie schon in den 1860er Jahren wurde das Gotthard-Projekt durch einen von den Ostschweizer Kantonen favorisierten Splügentunnel konkurrenziert. Eine Motion vom September 1973 mit ganzen 106 Mitunterzeichnenden forderte eine detaillierte Kosten-Nutzen-Analyse beider Projekte. Im Unterschied zum ersten Gotthardtunnel drängte der Bundesrat diesmal auf einen raschen Entscheid: «[E]ine weitere Verzögerung eines Grundsatzentscheids [...] wäre gravierend» (dodis.ch/40752), denn die Nachbarländer müssten in die Planung einbezogen werden. Eine Verzögerung würde für die Schweiz erhebliche Nachteile in der internationalen Verkehrspolitik bedeuten. Trotzdem sollte es noch beinahe 20 Jahre dauern bis zur NEAT-Abstimmung von 1992 und über vierzig Jahre bis zur Eröffnung des Gotthard-Basistunnels.