Migrationsabkommen mit Italien

«Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen», heisst das berühmte Diktum von Max Frisch aus dem Jahr 1965. Ganz ähnlich lauteten die Zeilen, die Bundesrat Hans Schaffner bereits 1964 an einen seiner Chefbeamten richtete: «Die Schweizer machen sich eben kolossale Illusionen, wenn sie glauben, wir könnten auf die Dauer nur die aktive, im Berufsleben stehende Bevölkerung des Nachbarstaates hereinnehmen», schrieb der Vorsteher des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements, «die Familien, Frauen, Kinder und Betagte, aber im Absenderstaat der an und für sich willkommenen Arbeitskräfte zurückzulassen» (dodis.ch/30798).

Umstrittenes Abkommen

Für den Bundesrat war es die «heure de la vérité»: Am 10. August 1964 hatten die Schweiz und Italien ein Abkommen über die Auswanderung italienischer Arbeitskräfte nach der Schweiz abgeschlossen, welches deren Anwerbung, Aufenthalt- und Arbeitsbedingungen regelte und insbesondere das Recht auf Familiennachzug sowie die Gleichbehandlung mit einheimischen Arbeitnehmern bezüglich Lohn, Arbeitnehmerschutz, Unfallverhütung, Gesundheitsvorsorge und Wohnungswesen festlegte. «[N]ach Strich und Faden» würde das Abkommen nun von der Presse «heruntergemacht», bevor es überhaupt publiziert sei, enervierte sich Schaffner (dodis.ch/30798).

Debatte um «Überfremdung»

Das «Italienerabkommen» kam zu einer Zeit, als die öffentlichen Debatten um die «Überfremdung» und das «Ausländerproblem» heiss liefen. Der Bundesrat war daran, einen Bericht über die «Beschränkung und Herabsetzung des Bestandes an ausländischen Arbeitskräften» auszuarbeiten, als der Abkommenstext frühzeitig publik wurde. Dies führte bei Teilen der Bevölkerung zu heftigen Reaktionen: «Ohne sich der Bedeutung des Abkommens genau im Klaren zu sein, zogen sie negative Schlussfolgerungen, aus Angst vor einem neuen, massiven Zustrom italienischer Arbeiter und ihrer Familien, mit schweren Konsequenzen vor allem für die Wohnungssituation» (dodis.ch/30799, Original französisch). Auch in den eidgenössischen Räten wurde das von Schaffner als «harmlose internationale Vereinbarung» bezeichnete Vertragswerk kontrovers diskutiert (dodis.ch/30845).

Angst vor den italienischen Kommunisten

In Italien geriet das Migrationsabkommen ebenfalls zum innenpolitischen Zankapfel. Die geschwächte christdemokratisch-sozialistische Regierungskoalition drängte auf eine rasche Ratifizierung durch das Schweizer Parlament, «um den voranschreitenden Kommunisten keine Argumente zu liefern» (dodis.ch/30796, Original französisch). Im Eidgenössischen Politischen Departement (EPD, heute EDA) urteilte man, diese «Befürchtungen eines weiteren Fortschreitens der Kommunisten» in Italien könne «auch uns nicht gleichgültig lassen» (dodis.ch/30797). Schliesslich trat das Abkommen am 22. April 1965 in Kraft.

Auswirkungen auf die Ausländerpolitik

Das Abkommen sollte die Migrationspolitik noch lange Jahre prägen. Einerseits versuchten andere Staaten wie Spanien oder Jugoslawien für ihre Gastarbeiter dieselben Vorteile auszuhandeln, wie sie das «Italienerabkommen» bot (dodis.ch/32342 und dodis.ch/32340). Andererseits gaben in der Ausländerpolitik zunehmend rechtspopulistische Volksbegehren den Takt vor. Der von James Schwarzenbach lancierten Volksinitiative «gegen die Überfremdung» ging ein Abstimmungskampf voraus, wie er «seit Jahrzehnten» nicht «mit dieser Hartnäckigkeit und Leidenschaft geführt worden ist» (dodis.ch/34534). In seiner Reaktion sah sich der Bundesrat gezwungen, die Politik gegenüber den fremden Arbeitskräften weiter zu verschärfen, was seinerseits die Beziehungen zu den betroffenen Staaten erschwerte (dodis.ch/35599). Am 7. Juni 1970 verwarfen Volk und Stände die Schwarzenbach-Initiative «relativ knapp, aber doch eindeutig».