Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 8, doc. 298
volume linkBern 1988
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#108* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 60 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 24 (1923–1923) |
dodis.ch/44940 Le Ministre de Suisse à Berlin, H. Rüfenacht, au Chef du Département politique, G. Motta1
Hat auch der Münchner Putsch und seine Niederschlagung eine gewisse Entspannung der in letzter Zeit bis zur Unerträglichkeit gesteigerten Erregung und Erwartung herbeigeführt, so ist die Lage in Bayern doch noch nicht völlig abgeklärt. Ein deutschnationaler Parteiführer bezeichnete übrigens gestern mir gegenüber das Misslingen des Putsches lediglich als die Folge eines Zufalles, wie er in der Geschichte vorkomme. Der Zufall liege darin, dass Hitler aus persönlichem Ehrgeiz einige Tage zu früh losgeschlagen habe; denn im übrigen sei die Organisation sehr weit verzweigt und erfolgsversprechend gewesen. Auch Küstrin sei seinerzeit nur wegen einer Unvorsichtigkeit misslungen. Aus den Ereignissen darf wohl auf zweierlei geschlossen werden: einmal auf die Möglichkeit weiterer rechtsradikaler Putschversuche und sodann auf die grosse Wahrscheinlichkeit auch ihrer Niederschlagung.
Im übrigen ist festzustellen, dass die allgemeine innere politische Orientierung immer noch nach rechts geht. Zwar ist die aus Russland genährte kommunistische Agitation weiterhin an der Arbeit, um die hungernden Massen für ihre Ziele aufzupeitschen. So ist der jüngste Druckerstreik, der nicht infolge Geldmangels, sondern durch das scharfe Eingreifen des Generals von Seeckt, d. h. durch die Festnahme der Streikführer, beendet wurde, von Moskau aus finanziert worden und zwar, wie mir ein Eingeweihter verriet, mit deutschem Gelde, nämlich durch Überspannung bezw. Missbrauch eines deutschen Warenkredites an Russland.
Die hoffnungslose wirtschaftliche Lage der grossen Massen hat jedenfalls den Drang nach einer Änderung der Lage in irgend einer Richtung wesentlich verstärkt. Das ist denn auch, wie mir Hergt gestern sagte, der Grund, ist vielleicht auch nur der Vorwand für die äusserste Rechte, selbst einzugreifen. Hergt behauptet nämlich, sie müsse es tun, um den Kommunisten zuvorzukommen. Dabei wird ihr die Stimmung grosser Kreise, die die Rettung von einer «starken Hand» erwarten, überaus förderlich sein. Der Führer der deutschnationalen Partei, der sich zum unverwüstlichen Optimismus bekennt, ohne welchen eine Führerrolle unmöglich sei, entwickelte mir in längerem Privatgespräch sein Programm, das mich allerdings nicht durch eine überwältigende Gründlichkeit und Ausführungsmöglichkeit überzeugt. Es ist im wesentlichen das Folgende:
Das Volk will unter allen Umständen aus dem gegenwärtigen Zustande heraus. In seiner Mehrheit erwartet es Hilfe von rechts. Die deutschnationale Partei ist zwar sonst in die Rolle der Oppositionspartei versetzt; sie darf aber ihre positive Arbeit nicht versagen, jetzt, wo diese gewünscht wird. Die Entwicklung nach rechts macht sich übrigens zwangsläufig ganz von selbst; die Partei braucht sich nicht aufzudrängen. Der Sturz des Kabinetts Stresemann ist die Frage nur noch kurzer Zeit, obschon an leitender Stelle starker Widerstand geleistet wird. Ist einmal die Rechte am Ruder, was «auch auf verfassungsmässigem Wege geschehen kann», so heisst es dreierlei schaffen: Lebensmittel, Geld und Arbeit. Die ersteren sind vorhanden, sie müssen nur bezahlt werden können. Das Geld wird, mit der Zeit auch aus dem Ausland, fliessen, nach Durchführung der Währungsreform und mit wachsendem Zutrauen in eine zielbewusste Führung. Arbeit wird geschafft werden durch vermehrte Produktion als Folge ihrer Verbilligung mittelst Verlängerung der Arbeitszeit und überdies durch Verwendung der ohnehin zu unterstützenden Arbeitslosen zu grosszügigen, soweit möglich produktiven Notstandsarbeiten, unter Leitung eines Arbeitsdiktators und mit Einführung der Zivildienstpflicht. So wird in wenigen Jahren wieder ein Aufschwung zu besseren Zeiten einsetzen. Die Reparationen? Vorläufig können wir natürlich nichts zahlen. Wir sind aber bereit, Deutschlands Schuld feststellen zu lassen und auch einen Aufbesserungsschein für die Zukunft zu geben. Nur muss endlich einmal das Damoklesschwert unerfüllbarer Forderungen von uns genommen werden. Noten werden wir allerdings an Frankreich, das uns stets abgewiesen hat, nicht mehr richten. Wir sind aber bereit, an Verhandlungen teilzunehmen, wenn man uns dazu einlädt. Was Frankreich dazu sagen wird? Wir haben uns von militärischen Sachverständigen, auch von solchen neutraler Staaten, beraten lassen, die einen französischen Einmarsch als undurchführbar bezeichnen. Wird er doch unternommen, so ziehen wir uns unter dem Schutz einer zu bildenden Armee vorläufig nach dem Osten zurück. Und die Ruhr? Diese wird sich selbst helfen. Es ist überhaupt, abgesehen vom menschlichen Gefühl, vom aussenpolitischen Standpunkte aus zu bedauern, dass die Offiziere und Soldaten, die das Essener Blutbad veranstaltet haben, mit dem Leben davongekommen sind, was den Mut der Besatzungsgruppen unnötigerweise gestärkt hat.
Soweit die Auffassung und die Pläne des Herrn Hergt. Noch ist aber Stresemann am Ruder und es ist überhaupt fraglich, ob er so rasch gestürzt werden kann. Freiwillig wird er nicht zurücktreten. Erst vor wenigen Tagen noch sagte mir seine Frau, dass er zwar unter den Angriffen und persönlichen Verunglimpfungen schwer leide, es aber als seine vaterländische Pflicht betrachte, bis zum Äussersten auszuharren. Und dass er sich behaupten kann, ist nicht ausgeschlossen. Die Sozialdemokraten haben ihm zwar den Kampf angesagt; es fragt sich aber doch, ob sie beim Vertrauensvotum gegen ihn stimmen und damit die Auflösung des Reichstages riskieren werden, da sie einen Wahlkampf bei ihrem gesunkenen Einfluss und ihren leeren Parteikassen wenn immer möglich vermeiden müssen. Und noch steht Seeckt, auf dessen Unterstützung eine Rechtsdiktatur so gut wie angewiesen ist, dem Vernehmen nach fest zu Ebert und Stresemann. Der Schachzug des letzteren, sich einen Entzug der in Aussicht gestellten amerikanischen Lebensmittelanleihe für den Fall einer ausgesprochenen Rechtsregierung androhen zu lassen, mag auch eine gewisse Wirkung ausüben. So steht denn noch gar nicht fest, ob trotz der bisherigen deutschnationalen Parole: «nur ohne Stresemann» dieser gewandte Politiker nicht doch im Sattel bleibt, mit oder ohne Eintritt eines Deutschnationalen in die Regierung. Für diesen Fall ist der Ausbau der Währungsreform durch Errichtung einer privaten Goldnotenbank unter Leitung von Schacht geplant, deren Deckung im Auslande bleiben würde und wofür schon die City und u. a. auch schweizerische Banken eine Beteiligung zugesagt haben sollen.
Was eine starke Rechtsdiktatur im Inneren vermöchte, bleibt abzuwarten. Für die äussere Politik dürfte deren Fortführung durch Stresemann nützlicher sein, trotz, oder vielleicht gerade wegen des Schwankens und Lavierens, das ihm vorgeworfen wird und das sich letzter Tage insbesondere in der Ruhrfrage fühlbar machte. Die Regierung war am 13. ds. im Begriff einen Beschluss zu fassen, oder hatte ihn bereits gefasst, nach dem alle finanziellen Leistungen des Reiches ins Rhein- und Ruhrgebiet auf den 15. oder 25. ds. eingestellt werden sollten, womit diese Länder ihrem Schicksal, d.h. Frankreich «wenigstens vorübergehend» überlassen worden wären. Auf energische Vorstellungen der Sozialdemokraten hin wurde von dieser verzweifelten Massnahme wieder abgesehen und von den durch die Errichtung der Rentenbank flüssig gemachten Geldern ein wesentlicher Teil für das besetzte Gebiet freigestellt. Auf die Dauer wird aber das Schicksal von Rhein und Ruhr eben doch von Frankreich und vom Verhalten und den Absichten der grössten Macht im Staate, der Schwerindustrie, abhängen.
Der Rückkehr des Kronprinzen wird eine politische Bedeutung, im Sinne einer monarchistischen Bewegung, nicht beigemessen. Der Zeitpunkt, dessen Wahl allerdings im Hinblick auf die gegenwärtige Gährung eine etwas auffallende ist, wird mir durch zwei Momente erklärt: einmal habe Stresemann für den Fall, dass er Kanzler werde, dem Kronprinzen die Rückkehrerlaubnis schon früher in Aussicht gestellt, und sodann habe Stresemann diese Erlaubnis durch die Regierung gerade jetzt erteilen lassen, um für den Fall reichsmonarchistischer Bestrebungen in München einen Keil in die Deutschnationalen zu treiben. Dafür dürfte auch sprechen, dass die Sozialdemokraten, die zur Zeit des Beschlusses noch in der Regierung sassen, sich diesem, wie ich aus sicherer Quelle weiss, nicht widersetzten. Die Sanktionen, die von Frankreich gegen die Rückkehr des Kronprinzen angedroht worden sein sollen, scheinen wieder in Frage gestellt zu sein. Wenigstens hat die Presse einen Wink erhalten, die Angelegenheit nicht weiter zu erörtern.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Berlin 24.↩
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