Classement thématique série 1848–1945:
XII. MOUVEMENTS SOCIALISTES, RÉVOLUTIONNAIRES ET CONTRE-RÉVOLUTIONNAIRES
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-II, doc. 278
volume linkBern 1984
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001B#1000/1501#8* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(B)1000/1501 1 | |
Dossier title | Innerpolitische Berichte (Handakten Legationsrat Egger) (1920–1924) | |
File reference archive | A.12.15 |
dodis.ch/44489
Im Februar ist in Bern neuerdings eine Konferenz zusammengetreten zur Beratung der Frage des Abbaues und der Neu-Organisation des Grenzschutzes. Wie in den früheren Konferenzen ist eine grundsätzliche Aufhebung des Grenzschutzes von niemandem verlangt worden. Das politische Departement hat den Standpunkt eingenommen, dass es aus innerpolitischen Gründen begrüssenswert wäre, wenn eine Aufhebung des Grenzschutzes eintreten könnte, dass es aber auf der Beibehaltung eines Grenzschutzes bestehen müsse, weil man für die nächsten Zeiten doch mit der Möglichkeit kritischer Ereignisse zu rechnen habe. Die Konferenz kam zu dem Schlüsse, dass das Militärdepartement bereit sei, sofort die nötigen Vorkehren zum Abbau der Sperrzonen und zu der in Aussicht genommenen Reduktion der Bewachungsmannschaften um 800 Mann zu treffen, ferner seien alsbald weitere noch nötige Feststellungen und Untersuchungen durchzuführen, um die spätere Umorganisation seinerzeit auf sicherer Grundlage rasch durchführen zu können. Der Bundesrat hat beschlossen, das Grenzdetachement Nordostschweiz sei zu beauftragen, in Verbindung mit der Kreiszolldirektion II einen Plan betreffend Abbau und Neuorganisation des Grenzschutzes, insbesondere im Gebiete des Kantons Schaffhausen, beförderlichst den beteiligten Departementen zu Händen des Bundesrates vorzulegen. [...]
Die bolschewistischen Umtriebe in der Schweiz werden durch eifrige und planmässige Organisationsarbeit, die auf eine grosse Frühjahrsbewegung hindeutet, gefördert. Es sprechen aber noch keine Anzeichen dafür, dass sich eine der gewerkschaftlichen Bewegungen zu einer grösseren politischen Aktion auswachsen könnte. Mit Befriedigung darf konstatiert werden, dass der Gegensatz zwischen dem gesunden Egoismus des Arbeiters und den revolutionären Theorien in mancher Hinsicht greifbar zu Tage tritt. Die sozialistische Führerschaft scheint etwas bekümmert zu sein, weil ihr nicht alles blindlings folgen will und weil eine ökonomische Besserstellung einem grossen Teil der Masse wertvoller ist als politischer Umsturz.
Wir wissen, dass auf einer jüngsten Konferenz schweizerischer Bierbrauereibesitzer und Vertreter der Arbeiter des Brauereigewerbes, wo die Frage des Tarifvertrages, der Lohnerhöhung etc. erörtert wurde, eine durchaus versöhnliche Stimmung herrschte. Die Arbeiter am grünen Tisch haben einen ganz anderen Ton angeschlagen als ihre für die breite Masse bestimmte politische Tagespresse.
Das Organ der Typographengewerkschaft charakterisiert in bezeichnender Weise die beiden Strömungen, die sich zur Zeit in der Sozialdemokratie geltend machen: «Die Auffassung der ‹Gemässigten› tendiert dahin, auch die Arbeiterschaft solle ihr möglichstes versuchen, damit wir wieder die sogenannten normalen Zeiten bekommen, indem der Streik, vor allem der politische Streik, nach Möglichkeit vermieden wird, also demzufolge die Proleten in ihren Forderungen etwas bescheidener sein sollten, um so das Wirtschaftsleben vor weiteren Erschütterungen zu bewahren. Die ‹ Radikalem hingegen sind daran interessiert, dass zwar nicht etwa die Lebensmittelversorgung unnötigerweise verhindert wird, dass aber im übrigen das jetzige Wirtschaftssystem zerstört werden soll, weil dann notwendigerweise ein anderes, das sozialistische Wirtschaftsprinzip, kommen muss.»
Die bolschewistische Propaganda in der Schweiz unterhält regsten Kontakt mit dem Ausland. Die Sendboten fahren hin und her und kennen weder Grenznoch Passschwierigkeiten. Der bernische Stadtrat Karl Moor, der seit Monaten in Berlin sitzt, scheint den verschiedensten Besuchern beiderlei Geschlechtes jeweilen bequemes Absteigequartier zu verschaffen. Wir wissen aus zuverlässiger Quelle, dass EnverPascha vor drei Wochen mit Moor in seinem Berlin er Hotel zusammentraf, und wir glauben bestätigen zu können, dass EnverPascha beabsichtigte, mit einem Flugzeug nach Russland zu fliegen, um von dort mit Unterstützung der Sovietregierung den keimenden Brand in Afghanistan zu schüren. EnverPascha musste unterwegs infolge eines Motordefektes in der Ukraine landen und seine ungehinderte Rückkehr nach Berlin, wo er unter einem Decknamen wohnt, soll er ausschliesslich den Bemühungen Moors verdanken. Auch Rosa Grimm hat anlässlich ihrer Rückkehr von der geheimen internationalen kommunistischen Konferenz in Amsterdam beim Genossen Moor vorgesprochen.
Die Bundesanwaltschaft hat bis heute noch keine Spur der Urheber des Bombenattentates gegen das amerikanische Konsulat in Zürich gefunden. Verschiedene Verhaftete konnten ihr Alibi nachweisen. Da es sich aber nach der Vermutung der Bundesanwaltschaft um eine Bombe mit Zeitzünder handelt, dürfte es den Attentätern nicht schwer gewesen sein, sich ein ausgiebiges Alibi zu beschaffen. Das Volksrecht benützt diesen Bombenanschlag, um dem Bürgertum die Fingierung von kommunistischen Anschlägen zu unterschieben. Es schreibt:
«Auch wir dürfen Vermutungen haben und sie aussprechen. Und die gehen dahin, dass es sich um eine Mache handelt, eine Mache, die dem Bürgertum den Anlass und den Vorwand geben soll zu weiteren reaktionären Massnahmen aller Art. In dieser Vermutung werden wir insofern bestärkt, als es sich bei der Bombe um einen Zeitzünder bester Konstruktion handeln soll, von welcher Sorte nicht der erste beste einige Stücke in der Kommode aufbewahrt, die man nicht selbst fabrizieren und auch nicht im Laden kaufen kann. Es liegt etwas in der Luft. Wir haben mitgeteilt, welche vorsorglichen Massnahmen bereits getroffen wurden für den Fall einer Aktion der Eisenbahner. Man kennt die ungeheure Reaktion, die in der Stadt Zürich immer schärfer zum Ausdruck kommt. Es musste etwas geschehen, um noch rigoroser wüten zu können.»
Am 28. März ist in Yverdon ein kommunistischer Kongress der dritten Internationale für die romanische Schweiz vorgesehen. Organisator desselben ist der bekannte bolschewistische Pfarrer Humbert-Droz. Zum Kongress sind eingeladen alle Sektionen, die mehrheitlich der dritten Internationale zuneigen, ferner alle kommunistischen Gruppen, alle vereinzelten Genossen, die Anhänger der dritten Internationale sind, ferner die sozialistischen Jugendorganisationen und kommunistischen Studentenverbindungen. Im Aufruf heisst es: «Die Stunde ist gekommen für die Konzentration aller unserer Propaganda- und Aktionsanstrengungen. Wir rechnen auf eine starke Anteilnahme.»
In der Ziegelhütte von Boscherina (bei Mendrisio) ist ein Betriebsrat eingesetzt worden. Die Anerkennung wurde durch einen eintägigen Streik erreicht, der wegen Lohnaufbesserung inszeniert wurde. Der Betriebsrat besteht aus sechs Arbeitern der Fabrik und befasst sich mit allen Fragen, welche die Direktion und die Arbeiterorganisation betreffen. Nötigenfalls erhält er von der Arbeitskammer Unterstützung. Das Tessiner sozial. Parteiorgan bucht diese Organisation mit grosser Genugtuung und empfiehlt sie auch den in einer Bewegung stehenden Arbeitern der Papierfabrik Tenero bei Locarno.
Bei der Beratung der in der letzten Session der Bundesversammlung eingebrachten (aber nicht zur Beantwortung gelangten) Interpellation Belmont2 betreffend die Aufnahme der Verbindungen mit Sovietrusslandwar der Bundesrat der übereinstimmenden Meinung, dass er die Bestrebungen anderer Länder zur Anknüpfung wirtschaftlicher Beziehungen zu Sovietrussland mit aller Aufmerksamkeit verfolge und auch der Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zwischen schweizerischen Firmen und Russland kein Hindernis in den Weg legen werde. Angesichts der völligen Unabgeklärtheit der innern Verhältnisse Russlands und seiner staatsrechtlichen Konstruktion könne vorläufig von einer offiziellen Anerkennung der Sovietrepublik nicht wohl die Rede sein. Diese und die Zulassung einer russischen Gesandtschaft nach der Schweiz wäre nur unter der Voraussetzung möglich, dass der russische Staat bereit wäre, für die Schäden, die den Schweizern in Russland zugefügt worden sind, die Haftung zu übernehmen, und wenn sich die Gesandtschaft der Soviet-Republik den Regeln des internationalen Rechts fügen, also vor allem sich der bolschewistischen Propaganda in der Schweiz enthalten wollte.
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