Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 122
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#13555* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 2806 | |
Dossier title | Massnahmen an der Südgrenze beim Kriegseintritt Italiens, Mai 1915 (1915–1916) | |
File reference archive | 06.H.3.e.1 |
dodis.ch/43397
Liegt in der Wahrscheinlichkeit, dass Italien in nächster Zeit seinem ehemaligen Verbündeten Österreich den Krieg erklärt, für uns die Notwendigkeit, Massregeln zum Schutze unserer Grenzen zu treffen?2
Offiziell leben Italien und Österreich zur Stunde noch in bestem Einvernehmen; keiner der beiden Staaten hat dem ändern ein Ultimatum gestellt. Wir wissen nur, dass sie miteinander über gewisse Forderungen Italiens verhandeln und dass es höchst wahrscheinlich ist, dass Italien, wenn sich diese Verhandlungen resultatlos zerschlagen, zu den Gegnern Österreichs-Deutschlands übergeht und dann in den Krieg eintritt.
Nach allen Nachrichten soll diese Wahrscheinlichkeit wiederum sehr gross sein.
Solange dies aber nur Wahrscheinlichkeit ist, ist es eine im höchsten Grad auffallende Massregel, wenn wir an unserer von niemandem und von keiner Kriegsunruhe bedrohten Grenzen aufmarschieren. Diese Massregel wird zu einem einseitig feindseligen Akt, wenn der Aufmarsch ausschliesslich oder auch nur ganz vorwiegend gegenüber dem einen der beiden Nachbarn erfolgt, wobei noch in Betracht gezogen werden muss, dass dieser Nachbar unserer Gesinnung ihm gegenüber schon seit langem misstraut.
Aus den vorstehenden Erwägungen geht hervor, dass wir eine der Kriegserklärung zwischen unsern beiden Nachbarn im Süden vorangehende Deckung unserer dortigen Grenze gegen feindliche Massregeln Italiens nur dann vornehmen dürften, wenn wir die zwingende Notwendigkeit dazu erkannt haben.
Wenn in einem Kriege zwischen unsern beiden Nachbarn der eine von den beiden unsere Neutralität missachtet und unsere Grenzen mit Waffengewalt überschreitet, so kann dies entweder von vornherein geplant, oder durch die Entwicklung der Umstände veranlasst worden sein.
Ein der Kriegseröffnung gegeneinander vorausgehender Aufmarsch unserer Truppen hat die Annahme zur Voraussetzung, dass die Missachtung unserer Neutralität, der Einmarsch in unser Gebiet von vornherein beabsichtigt worden ist.
Es frägt sich nun, ob so was von Italien angenommen werden darf.
Dies könnte geschehen, entweder, weil der Durchmarsch durch die Schweiz für die Kriegführung mit Österreich vorteilhaft ist, oder, um vorläufig einmal jenes Gebiet zu erobern, nach dessen Besitz sich die «Italia-Irredenta» ebenfalls sehnt und das aller Voraussichtlichkeit nach am leichtesten zu erobern ist. Diese letztere Ursache erachten wir als die aller unwahrscheinlichste; denn der ganze Krieg von Italien gegen Österreich wurde ja nur unternommen, um die zu Österreich gehörigen Gebiete Italiens zu erobern und vor allem um sich die Herrschaft in der Adria sicherzustellen. Hiefür wäre eine Besitzergreifung des Kantons Tessin gänzlich bedeutungslos; es bliebe nur noch die Frage, ob die Okkupierung des Kantons Tessin für Italien von Wert wäre für seine Kriegführung gegen Österreich.
Mag man auch von der italienischen Armeeführung so gering denken wie man will, so glaube ich doch, dass dieselbe unter den gegenwärtigen Verhältnissen niemals auf den Gedanken kommen könnte, das Ziel ihrer Operationen könne erreicht werden mit einer Diversion durch die Schweiz gegen Tirol. Das Einschlagen dieses Weges würde Italien von seinem Operationsziel abführen und auch dann in eine ungünstige Lage bringen, selbst wenn man die schweizerische Armee bei ihrer Verteidigung der Alpenpässe als «quantité négligeable» betrachten darf.
Ich erachte daher für gänzlich ausgeschlossen, dass Italien von vornherein die Absicht haben wird, unsere Neutralität zu verletzen und in den Kanton Tessin einzubrechen; es würde dies Italien nach keiner Richtung hin in eine günstigere strategische Lage zu seinem eigentlichen Gegner bringen, und ganz zwecklos hätte sich Italien auch die Schweiz mit ihren doch ganz respektablen Heereskräften zum Gegner gemacht.
Ich bin der Ansicht, dass eine Unternehmung Italiens gegen den Kanton Tessin, und um durch diesen Österreich in die Flanke zu gelangen, erst dann und nur dann ins Auge gefasst wird, wenn das ursprünglich ins Auge gefasste Operationsziel nicht erreicht werden konnte und nun nach ändern Mitteln gesucht werden muss.
Ist diese Annahme zutreffend, dann kommen wir mit der Anordnung der Mobilisierung und des Aufmarsches an der Südfront immer noch früh genug, wenn wir damit zuwarten, bis die Gegner zur Kriegserklärung gegen einander gekommen sind, und dann unsere Massregeln zu unserm Grenzschutz nichts Auffallendes mehr haben und nicht mehr gedeutet werden können als der Ausfluss unseres feindseligen Misstrauens gegen den einen der.beiden Kriegführenden, gegen Italien.
Sollte nun diese Argumentation unrichtig und dagegen die Annahme zutreffend sein, dass wir uns sofort gegen einen Einbruch Italiens in unser Gebiet schützen müssen, so handelt es sich dann um eine Massregel Italiens, die von langer Hand her geplant worden war und für die daher Italien auch so viel Kräfte verwenden wird, dass es rasch sein Ziel erreicht.
Für diese Annahme genügt daher niemals, dass wir nur eine oder anderthalb Divisionen nach dem Tessin schicken, sondern wir müssen unsere ganze Armee mobilisieren und so viel von ihr, wie wir irgendwie können, für die Abwehr bereit machen.
Zusammenfassend geht meine Ansicht dahin:
Ohne jede Sorge können wir mit der Mobilisierung weiterer Kräfte zur Dekkung unserer Südfront noch zuwarten, bis die jetzt grosse Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen Italien und Österreich zur Gewissheit geworden ist. Wieviel Truppen wir dann mobilisieren und nach dem Tessin hinunterschicken, bleibt späterer Erwägung Vorbehalten.
Sind Sie aber der Ansicht, dass in dem Ausbruch des Krieges zwischen Italien und Österreich eine unmittelbare Gefahr für uns liegt, dann müssen alle 4 Divisionen, die wir noch auf Pikett haben, mobilisiert und gegen die Südgrenze geschickt werden3.
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