93.098 Rapport sur la politique extérieure de la Suisse dans les années 90
93.098 Rapporto sulla politica estera della Svizzera negli anni Novanta
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Die Schweiz und die Konstruktion des Multilateralismus, Bd. 3. Diplomatische Dokumente der Schweiz zur Geschichte der UNO 1942–2002, vol. 15, doc. 44
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
Old classification | CH-BAR FF, 1994 I, p. 150-237 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
Old classification | CH-BAR BBl, 1994 I, S. 153-242 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
Old classification | CH-BAR FF, 1994 I, pp. 130-218 |
dodis.ch/54677
Bericht der Arbeitsgruppe Neutralität1
Schweizerische Neutralität und Zwangsmassnahmen
[...]2
4.1 Zwangsmassnahmen der Vereinten Nationen
4.1.1 Das Sicherheitssystem der Vereinten Nationen und die bisherige Praxis der Schweiz
Bei der Neutralität einerseits und dem kollektiven Sicherheitssystem der Vereinten Nationen anderseits handelt es sich um zwei völkerrechtliche Institute, die verschiedenen Entwicklungsstadien der internationalen Ordnung zuzuordnen sind und auf den ersten Blick in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die Neutralität basiert auf der bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreiteten, indifferenten Sicht des Krieges als eines normalen, legitimen Mittels der zwischenstaatlichen Streitaustragung. Es war damals – auch unter moralischen Gesichtspunkten – durchaus zulässig, wenn sich ein Staat bei einer kriegerischen Streitaustragung neutral verhielt.
Demgegenüber liegen dem kollektiven Sicherheitssystem der Vereinten Nationen ganz andere Überlegungen zugrunde. Es beruht auf dem Grundsatz, dass der Krieg und überhaupt jede Anwendung von Gewalt zwischen einzelnen Staaten verboten ist. Ausnahmen von diesem absoluten Gewaltverbot sind nach der UNO-Charta nur im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts im Falle eines bewaffneten Angriffs oder von kollektiven Zwangsmassnahmen zulässig. Die internationale Sicherheit und der Friede wird durch friedliche Streitbeilegung und als ultima ratio durch gemeinsame Zwangsmassnahmen aller Staaten gegen den Friedensstörer aufrechterhalten oder wiederhergestellt. Wer in diesem kollektiven Sicherheitssystem den Frieden und die Sicherheit eines einzelnen Staates stört, der stört den Frieden und die Sicherheit der ganzen Staatengemeinschaft. Die Charta der Vereinten Nationen ächtet den Krieg als Mittel der internationalen Konfliktregelung und legitimiert gemeinsame Zwangsmassnahmen aller Staaten gegen den Friedensbrecher. Die UNO-Charta spricht nirgends von der Neutralität, weil es in einem stets funktionierenden System der kollektiven Sicherheit für die klassische Neutralitätskonzeption dem Grundsatze nach keinen Platz mehr gibt. Dieses System verlangt immer und von allen Staaten aktives Handeln gegen den Friedensbrecher.
Im Mittelpunkt des kollektiven Sicherheitssystems der UNO steht der Sicherheitsrat. Laut Kapitel VII der UNO-Charta kann er vier verschiedene Massnahmen ergreifen, wenn er eine Bedrohung, einen Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung feststellt (Artikel 39): er kann zur Einhaltung vorläufiger Massnahmen auffordern (Artikel 40), Empfehlungen abgeben (Artikel 39), nichtmilitärische Zwangsmassnahmen anordnen (Artikel 41) oder militärische Zwangsmassnahmen verhängen (Artikel 42). Als nichtmilitärische Zwangsmassnahmen kann der Sicherheitsrat die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegrafen- und Funkverbindungen und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen verlangen. Hält der Sicherheitsrat diese Massnahmen nach Artikel 41 für ungenügend oder haben sie sich bereits als unwirksam erwiesen, so kann er militärische Zwangsmassnahmen anordnen. Diese werden durch die Streitkräfte der Mitgliedstaaten durchgeführt, die entweder den Vereinten Nationen auf der Grundlage eines entsprechenden Sonderabkommens zur Verfügung gestellt werden (Artikel 43) oder die dazu vom Sicherheitsrat ermächtigt wurden.
Die Organe der Vereinten Nationen sowie ihre Mitglieder halten Sanktionsbeschlüsse des Sicherheitsrates, die sich auf Kapitel VII (Artikel 39–51) der Charta stützen, für rechtlich verbindlich. Daher sind alle Mitgliedstaaten zum Vollzug von Wirtschaftssanktionen der UNO verpflichtet. Im Gegensatz dazu besteht keine Pflicht zur aktiven Teilnahme an militärischen Zwangsmassnahmen. Artikel 43 der Charta sieht ausdrücklich vor, dass Mitgliedstaaten zur Beteiligung an militärischen Sanktionen nur aufgrund von Sonderabkommen angehalten werden können, die vom jeweiligen Staat nach Massgabe seines Verfassungsrechts ratifiziert werden müssen. Die Staaten können nicht zum Abschluss von derartigen Sonderabkommen gezwungen werden. Ebenso wirkt die Ermächtigung des Sicherheitsrates zur Gewaltanwendung zwecks Durchsetzung seiner Anordnungen für die Staaten nur legitimierend, nicht verpflichtend. Es ist alleine in ihr politisches Ermessen gestellt, ob sie an militärischen Sanktionen oder Interventionen mitwirken wollen.
Alle Anordnungen von Zwangsmassnahmen durch den Sicherheitsrat brauchen die Zustimmung von 9 der 15 Mitglieder und dürfen zudem von keinem der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder3 abgelehnt werden (Veto). Weil die Beschlussfähigkeit des Sicherheitsrats meist durch das Veto eines dieser Staaten blockiert wurde, kam das kollektive Sicherheitssystem der UNO bis anhin nur selten zur Anwendung. Die Welt wurde trotz dieses Sicherheitssystems seit 1945 von einer Vielzahl von bewaffneten Konflikten heimgesucht.
Nichtmilitärische Sanktionen wurden nur in wenigen Fällen ergriffen: 1966 wurde ein Wirtschaftsembargo gegen Rhodesien erlassen,4 1977 ein Waffenembargo gegen Südafrika,5 1990 umfassende Wirtschaftssanktionen verbunden mit einer See- und Luftblockade gegen den Irak,6 1991 ein Waffenhandelsembargo gegen Jugoslawien7 und 1992 gegen Somalia8 und Liberia,9 1992 die Unterbindung des Luftverkehrs mit Libyen10 sowie Wirtschaftssanktionen gegen Serbien und Montenegro, die 1993 verstärkt wurden.11 Im Anschluss an diese Sanktionsbeschlüsse hat die Schweiz im Falle von Rhodesien den sogenannten «courant normal» praktiziert, d. h. das Handelsvolumen auf den Durchschnitt einer den Sanktionen vorangegangenen repräsentativen Basisperiode stabilisiert.12 Das Waffenembargo gegenüber Südafrika, Jugoslawien, Somalia und Liberia hatte die Schweiz gemäss dem Bundesgesetz über das Kriegsmaterial vom 30. Juni 1972 (SR 514.51),13 wonach keine Waffen in politische Spannungsgebiete geliefert werden dürfen, bereits verwirklicht.14 An den nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen den Irak, den ersten UNO-Sanktionen, die sich gegen einen in einen internationalen Konflikt verwickelten Staat gerichtet hatten, nahm die Schweiz teil.15 In gleicher Weise implementierte sie auch die Sanktionen gegen Libyen und Serbien/Montenegro in autonomer Weise.16 Diese Politik des Bundesrates stiess im In- und Ausland auf grosse Zustimmung.
Den Einsatz militärischer Mittel hat der Sicherheitsrat erst in wenigen Fällen beschlossen. 1950 empfahl er den Mitgliedstaaten, der Republik Korea gegen Nordkorea militärische Hilfe zu leisten.17 1966 wurde Grossbritannien ermächtigt, gegenüber Rhodesien das Ölembargo nötigenfalls mit Gewalt durchzusetzen.18 Im Golfkonflikt von 1990/91 wurden die Mitgliedstaaten ermächtigt, gegen den Irak alle notwendigen Mittel einzusetzen, um den früheren Resolutionen Geltung zu verschaffen und die internationale Sicherheit in der Region wiederherzustellen.19 All diese militärischen Massnahmen wurden nie aufgrund von Sonderabkommen gemäss Artikel 43 der UNO-Charta durchgeführt, vor allem weil kein Staat bereit war, seine Streitkräfte der Verfügungsgewalt des Sicherheitsrates zu unterstellen und auch nicht dazu gezwungen werden konnte. Vielmehr wurden die Militäraktionen jeweils durch einzelne Mitgliedstaaten unternommen, die dazu in den entsprechenden Sicherheitsratsresolutionen ermächtigt wurden.
Einen Sonderfall der militärischen Zwangsmassnahmen bildet die gewaltsame humanitäre Intervention. Sie dient dem Zweck, die Einwohner eines Staates auf dessen eigenem Territorium vor unmenschlicher Verfolgung zu schützen oder humanitäre Hilfe zu gewährleisten. So ermächtigte der Sicherheitsrat gestützt auf Kapitel VI und VII der Charta die Staatengemeinschaft 1991 im Anschluss an den Golfkrieg zum Schutz der Kurden im Irak,20 1992 zur bewaffneten humanitären Hilfestellung in Somalia21 und 1992/1993 in Bosnien-Herzegowina.22
Die Schweiz hat sich grundsätzlich nicht an militärischen Sanktionen beteiligt. Nach Beginn der militärischen Aktionen der Alliierten im Golfkonflikt am 17. Januar 1991 hatte der Bundesrat beschlossen, das Überfliegen der Schweiz durch Kampfflugzeuge oder Truppen- und Munitionstransportmaschinen der die militärischen Massnahmen der UNO durchführenden Staaten nicht zu gestatten.23 Er hat aber bereits damals angekündigt, dass er diese Praxis überprüfen werde.24 Er erteilte ferner keine Bewilligungen mehr für Kriegsmaterialexporte in Staaten des Krisengebietes unter Einschluss der Türkei.25 An Staaten, die auf der arabischen Halbinsel Truppen stehen hatten, wurden Exportbewilligungen nur noch erteilt, wenn sichergestellt war, dass die gelieferten Waffen nicht in den militärischen Aktionen gegen den Irak zum Einsatz kommen würden.26 Hingegen hat er Massnahmen und Überflüge mit humanitärem Charakter jeweils grosszügig erlaubt und unterstützt.27 Nach Beendigung der eigentlichen Kriegshandlungen hat sich die Schweiz aktiv am Vollzug von Zwangsmassnahmen gegenüber dem Irak beteiligt, indem sie der UNO u. a. Experten zum Aufsuchen und Vernichten von B- und C-Waffen und deren Produktionsstätten im Irak zur Verfügung gestellt hat.28 In den Krisengebieten Bosnien-Herzegowina und Somalia hat der Bundesrat unter anderem mit Hilfe des Schweizerischen Katastrophenhilfekorps (SKH) sowie durch eine grosszügige Unterstützung des IKRK humanitäre Hilfe geleistet.29
Im folgenden soll dargelegt werden, welche Überlegungen den Bundesrat seit 1990 veranlasst haben, die nicht-militärischen Zwangsmassnahmen der Vereinten Nationen solidarisch mitzutragen und wie er sich in Zukunft in bezug auf derartige Sanktionen zu verhalten gedenkt.
4.1.2 Vereinbarkeit von Neutralität und UNO-Sanktionensystem
Die schweizerische Neutralität und das kollektive Sicherheitssystem der Vereinten Nationen versuchen, ähnliche Ziele zu verwirklichen, nämlich die Aufrechterhaltung der einzelstaatlichen Integrität, die Verhütung von Konflikten und Kriegen, die Sicherung eines friedlichen Zusammenlebens. Im Gegensatz zu der eher defensiven Neutralität strebt das kollektive Sicherheitssystem der UNO an, diese Ziele durch gemeinsame Zwangsmassnahmen aller Staaten gegen den Friedensstörer zu erreichen. Das System der kollektiven Sicherheit setzt, um wirksam zu sein, eine weitgehende Einigkeit der Staaten voraus. Die Neutralität dagegen ist dann angemessen, wenn keine Einigkeit besteht. Diese beiden in der Zielsetzung ähnlichen, nur in der Methode verschiedenen Verhaltensweisen einem Friedensbrecher gegenüber können durchaus in Einklang gebracht werden.
Die Schweiz hat als kleines Land ein überragendes Interesse daran, dass die kollektive Sicherheitsordnung der UNO wirksam funktioniert. Es muss ihr daran gelegen sein, dass das Völkerrecht und das Gewaltverbot gegenüber allen Staaten durchgesetzt, und dass eine Friedensordnung, in der die Kleinen nicht dem Machtstreben der Grösseren ausgesetzt sind, errichtet wird. Daher muss die Schweiz – ob sie UNO-Mitglied ist oder nicht – dem Gebot der internationalen Solidarität nachkommen und die UNO unterstützen, wenn diese geschlossen die in ihrer Charta vorgesehenen Massnahmen gegen einen Rechtsbrecher ergreift. Zwischen einem Staat, der die Völkerrechtsordnung in schwerwiegender Weise missachtet oder den Frieden bricht, und der gesamten übrigen Staatengemeinschaft kann es grundsätzlich eine neutrale Haltung nicht geben. Die Schweiz muss sich in derartigen Fällen eindeutig auf die Seite des Rechts und damit der Vereinten Nationen stellen. Im übrigen gilt es zu berücksichtigen, dass die Zwangsmassnahmen gegen Mitglieder der UNO verhängt werden und sich diese mit dem Beitritt zur Organisation ausdrücklich mit deren Zielen und Mitteln einverstanden erklärt und sich implizit auch dem Sanktionensystem unterworfen haben.
Ein Alleingang der Schweiz gegen die durch einen Sicherheitsratsbeschluss vereinte Front der ständigen Sicherheitsratsmitglieder und der übrigen Staatenwelt könnte für die Schweiz schwerwiegende politische, wirtschaftliche und allenfalls sogar sicherheitspolitische Folgen zeitigen. Durch eine Nichtteilnahme an Wirtschaftssanktionen würde die Schweiz den Rechtsbrecher faktisch und moralisch unterstützen, den Zweck der Massnahmen, die wirtschaftliche Abschnürung des Rechtsbrechers, durchkreuzen und wirtschaftliche Vorteile gewinnen, während alle anderen Staaten durch die Mitwirkung am Boykott Opfer auf sich nähmen. Ein Abseitsstehen würde von der Staatenwelt als Begünstigung des mit Sanktionen belegten Staates angesehen und der Schweiz weltweit viel Wertschätzung kosten. Zudem würde die Schweiz Gefahr laufen, dass der Sicherheitsrat die Durchführung der angeordneten Zwangsmassnahmen auch gegenüber ihr mit wirtschaftlichen oder gar militärischem Druck erzwingen würde. Die Schweiz wäre damit in einer schwierigen Lage. Bei militärischen Zwangsmassnahmen der UNO wäre es höchst fraglich, ob sie ihr Abseitsstehen faktisch überhaupt durchsetzen könnte.
Gestützt auf die damals herrschende Lehre hatte der Bundesrat 1981 den Standpunkt vertreten, dass zwar die Mitwirkung eines neutralen Staates bei der Durchführung von UNO-Wirtschaftssanktionen neutralitätsrechtlich keine besonderen Probleme aufwerfe; hingegen komme die Teilnahme an militärischen Sanktionen für einen neutralen Staat deswegen nicht in Betracht, weil sie mit dem Neutralitätsrecht in Widerspruch stünde.30
Vor allem unter dem Eindruck der Universalität und des gesteigerten Rechtsdurchsetzungsanspruches, welche die UNO in den letzten Jahren gewonnen hat, nimmt heute die jüngere Lehre fast einhellig einen gegenteiligen Standpunkt ein, der insbesondere von Österreich seit dem Golfkrieg befolgt wird. Danach findet das klassische Neutralitätsrecht auf Sanktionen, die der Sicherheitsrat aufgrund des VII. Kapitels der Charta beschliesst und die von der Staatengemeinschaft weitgehend geschlossen mitgetragen werden, grundsätzlich keine Anwendung. Die Teilnahme eines neutralen Staates an Zwangsmassnahmen der UNO im Rahmen des Kapitels VII der Charta stehe nicht mit dem Neutralitätsrecht im Widerspruch.31 Dies gilt gleichermassen für wirtschaftliche und militärische Sanktionen. Bei militärischen Zwangsmassnahmen der UNO handelt es sich nach dieser Auffassung gar nicht um einen neutralitätsrechtlich relevanten Krieg, sondern um legale Massnahmen zur Durchsetzung von Beschlüssen des im Namen der Staatengemeinschaft handelnden Sicherheitsrates. Dieser sowie alle Staaten, die von dessen Ermächtigung zur Gewaltanwendung Gebrauch machen, handeln nicht als Kriegsparteien, sondern als Organ der internationalen Rechtsdurchsetzung. Daher können dauernd neutrale Staaten an Zwangsmassnahmen der UNO teilnehmen. Ihre Handlungsfreiheit ist durch das Neutralitätsrecht nicht beschränkt.
4.1.3 Handlungsspielraum der Schweiz bei Zwangsmassnahmen der UNO
Wo es das Interesse der Schweiz und ihre Solidaritätspflichten gebieten, soll unser Land in Zukunft in autonomer Weise an nichtmilitärischen und insbesondere wirtschaftlichen Zwangsmassnahmen der Vereinten Nationen teilnehmen, sofern diese vom Sicherheitsrat aufgrund der Charta beschlossen worden sind und von der Staatengemeinschaft in weitgehender Geschlossenheit mitgetragen werden. Die Schweiz behält sich aber vor, von einer Mitwirkung abzusehen, wenn massgebende Staaten an den Sanktionen von Anfang an nicht teilnehmen oder wenn die Einheit der die Sanktionen durchführenden Staatengemeinschaft zerfällt.
Ob und in welcher Form die Schweiz militärische Zwangsmassnahmen oder humanitäre Interventionen, die vom Sicherheitsrat angeordnet oder autorisiert wurden, in der einen oder anderen Form unterstützen bzw. nicht behindern will, ist in erster Linie Sache ihrer Interessenwahrung und ihrer Solidaritätspflichten. Der Bundesrat muss in einer umfassenden Güterabwägung entscheiden, ob die Unterstützung bzw. Nichtbehinderung derartiger Massnahmen im schweizerischen Interesse liegt und sich aus Gründen der Solidarität, der Humanität und des internationalen Friedens aufdrängt. Insbesondere muss er abwägen, welche Haltung der Schweiz dem Frieden und der Humanität besser dient. Mit Rücksicht auf die jeweiligen Unwägbarkeiten der militärischen Konfliktentwicklung und weil sich die Schweiz nicht militärisch in bewaffneten Konflikten engagiert, ist dabei allerdings Zurückhaltung angebracht. Es ist zu bedenken, dass ein Mitwirken bei Zwangsmassnahmen auch sicherheitspolitische Risiken mit sich bringen kann.
In der Regel wird die Schweiz aus Solidarität mit der Staatengemeinschaft und aus Interesse an einem effizienten Vorgehen gegenüber einem Rechtsbrecher die militärischen Aktionen des Sicherheitsrates oder der Staaten, die von einer Autorisierung der UNO Gebrauch machen, nicht behindern.
Ein Nichtmitwirken der Schweiz an den UNO-Zwangsmassnahmen würde ihr keine wirkungsvolle Reservestellung bei der Leistung Guter Dienste im betreffenden Konfliktsfall verschaffen. Im Verständnis der UNO-Charta sind die Vereinten Nationen nie Konfliktpartei, sondern ein von der ganzen Staatenwelt eingesetzter Ordnungshüter, der für die Wiederherstellung des internationalen Friedens zu sorgen hat. Wenn die Vereinten Nationen geschlossen gegen einen Staat Stellung beziehen, kann es in ihrer Sicht keine neutrale Haltung zwischen ihr und dem Rechtsbrecher geben und wollen sie keine Vermittlung durch einen Dritten. Im übrigen haben der Golfkrieg32 und die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien33 gezeigt, dass die diplomatischen Kontakte zwischen einem Rechtsbrecher und der UNO bzw. den übrigen Staaten selbst während und nach militärischen Zwangsmassnahmen über die UNO in New York fortlaufen, und zwar in weit intensiverem Masse, als dies über die Zwischenstation einer neutralen Schutzmacht möglich wäre.
In den Fällen eines bewaffneten Konfliktes, in denen das UNO-System der kollektiven Sicherheit nicht greift, wird sich die Schweiz gemäss den Pflichten der Neutralität verhalten. Durch ihre Guten Dienste wird sie versuchen, zu einer friedlichen Lösung beizutragen.
[...]34
- 1
- BBl, 1994, I, S. 153–242. Der Bericht wurde von der interdepartementalen Arbeitsgruppe Neutralität ausgearbeitet, welche vom Bundesrat am 29. April 1992 eingesetzt wurde und das Mandat erhielt, als Beilage zum Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 1990er Jahren auf der Grundlage der Vorarbeiten der Studiengruppe Neutralität des EDA einen Bericht über die Neutralität zu verfassen, vgl. DDS 1992, Dok. 12, dodis.ch/59120. Zur Studiengruppe Neutralität des EDA vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1981. Am 27. Oktober 1993 diskutierte der Bundesrat während der Klausursitzung den Bericht über die Aussenpolitik und die Beilage über die Neutralität ausführlich und nahm zustimmend davon Kenntnis, vgl. das BR-Beschlussprot. II der 9. ausserordentlichen Sitzung, dodis.ch/61212 resp. das BR-Prot. Nr. 1965 im Dossier CH-BAR#E1004.1#1000/9#1035* (4.10prov.). Nach einigen Anpassungen am Text wurde am 29. November 1993 die definitive Version der beiden Berichte verabschiedet, vgl. das BR-Prot. Nr. 2208, dodis.ch/62879. Die eidgenössischen Räte nahmen den Bericht in der Frühlingssession 1994 zu Kenntnis, vgl. Amtl. Bull. NR, 1994, I, S. 227 resp. Amtl. Bull. SR, 1994, I. S. 271.↩
- 2
- Für das vollständige Dokument vgl. das Faksimile dodis.ch/54677.↩
- 3
- Anmerkung im Original: Ständige Sicherheitsratsmitglieder sind China, Frankreich, Grossbritannien, Russland (zuvor UdSSR) und die Vereinigten Staaten von Amerika.↩
- 4
- Resolution Nr. 232 des Sicherheitsrats der UNO vom 16. Dezember 1966, UN doc. S/RES/232.↩
- 5
- Resolution des Sicherheitsrats der UNO vom 4. November 1977, UN doc. S/RES/418.↩
- 6
- Resolutionen des Sicherheitsrats der UNO vom 2. August 1990, UN doc. S/RES/660; vom 6. August 1990, UN doc. S/RES/661; vom 9. August 1990, UN doc. S/RES/662; vom 18. August 1990, UN doc. S/RES/664; vom 25. August 1990, UN doc. S/RES/665; vom 13. September 1990, UN doc. S/RES/666; vom 16. September 1990, UN doc. S/RES/667; vom 24. September 1990, UN doc. S/RES/669; vom 25. September 1990, UN doc. S/RES/670; vom 29. Oktober 1990, UN doc. S/RES/674 und vom 28. November 1990, UN doc. S/RES/677.↩
- 7
- Resolution des Sicherheitsrats der UNO vom 25. September 1991, UN doc. S/RES/713.↩
- 8
- Resolution des Sicherheitsrats der UNO vom 23. Januar 1992, UN doc. S/RES/733.↩
- 9
- Resolution des Sicherheitsrats der UNO vom 19. November 1992, UN doc. S/RES/788.↩
- 10
- Resolution des Sicherheitsrats der UNO vom 31. März 1992, UN doc. S/RES/748.↩
- 11
- Resolutionen des Sicherheitsrats der UNO vom 30. Mai 1992, UN doc. S/RES/757; vom 16. November 1992, UN doc. S/RES/787 und vom 17. April 1993, UN doc. S/RES/820.↩
- 12
- Zur Einführung der Bewilligungspflicht und des «courant normal» für Importe aus Rhodesien vgl. das BR-Prot. Nr. 2189 vom 17. Dezember 1965, dodis.ch/31953. Vgl. dazu ferner die thematische Zusammenstellung Rhodesien-Sanktionen, dodis.ch/T1571.↩
- 13
- Bundesgesetz über das Kriegsmaterial vom 30. Juni 1972, AS 1973, S. 108–115.↩
- 14
- Zu Südafrika vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1768; zu Jugoslawien die Zusammenstellung dodis.ch/C1681; zu Somalia die Zusammenstellung dodis.ch/C2271 und zu Liberia die Zusammenstellung dodis.ch/C2272.↩
- 15
- Vgl. dazu die Zusammenstellung dodis.ch/C1674 sowie QdD 15, Dok. 40, dodis.ch/54497 und Dok. 41, dodis.ch/56503.↩
- 16
- Zu Libyen vgl. das BR-Prot. Nr. 674 vom 15. April 1992, dodis.ch/60776 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C2192. Zu Serbien und Montenegro vgl. QdD 15, Dok. 42, dodis.ch/54873 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1681.↩
- 17
- Resolution des Sicherheitsrats der UNO vom 27. Juni 1950, UN doc. S/RES/83.↩
- 18
- Resolution des Sicherheitsrats der UNO vom 9. April 1966, UN doc. S/RES/221.↩
- 19
- Resolution des Sicherheitsrats der UNO vom 29. November 1990, UN doc. S/RES/678.↩
- 20
- Resolution des Sicherheitsrats der UNO vom 5. April 1991, UN doc. S/RES/688.↩
- 21
- Resolutionen des Sicherheitsrats der UNO vom 17. März 1992, UN doc. S/RES/746 und vom 28. August 1992, UN doc. S/RES/775 zur humanitären Hilfe im Rahmen der Friedensmission UNOSOM. ↩
- 22
- Resolutionen des Sicherheitsrats vom 29. Juni 1992, UN doc. S/RES/761; vom 14. September 1992, UN doc. S/RES/776 und vom 4. Juni 1993, UN doc. S/RES/836 betreffend militärischem Schutz humanitärer Konvois und humanitärer Organisationen durch das UNPROFOR.↩
- 23
- Vgl. dazu DDS 1991, Dok. 4, dodis.ch/54707 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C2055.↩
- 24
- Anmerkung im Original: Vgl. dazu die Antwort des Bundesrates auf die Einfache Anfrage Oehler vom 21. Januar 1991. Für den Wortlaut der Antwort vgl. dodis.ch/59768.↩
- 25
- Vgl. dazu das BR-Prot. Nr. 74 vom 17. Januar 1991, dodis.ch/57349 sowie das BR-Beschlussprot. II der 6. Sitzung vom 17. Januar 1991, dodis.ch/57691; die Aktennotiz der Politischen Abteilung II vom 22. April 1991, dodis.ch/57793 und die Aktennotiz der Direktion der Eidgenössischen Militärverwaltung vom 7. November 1991, dodis.ch/58350.↩
- 26
- Vgl. dazu dodis.ch/54530.↩
- 27
- Vgl. dazu die Zusammenstellungen dodis.ch/C2055 und dodis.ch/C1857.↩
- 28
- Für die Beteiligung der Schweiz an der Sonderkommission der UNO vgl. das BR-Prot. Nr. 1078 vom 3. Juni 1991, dodis.ch/57415.↩
- 29
- Zur humanitären Hilfe der Schweiz an Bosnien-Herzegowina vgl. insbesondere das BR-Prot. Nr. 1222 vom 29. Juni 1992, dodis.ch/60663 sowie die BR-Prot. Nr. 1440 vom 24. August 1992, dodis.ch/60664 und Nr. 2127 vom 11. November 1992, dodis.ch/60657. Zu Somalia vgl. die Aktennotizen der Politischen Abteilung II vom 10. Juli 1991, dodis.ch/58907 und vom 10. September 1992, dodis.ch/62298.↩
- 30
- Anmerkung im Original: Botschaft über den Beitritt der Schweiz zur Organisation der Vereinten Nationen (UNO) vom 21. Dezember 1981 (BBl 1982 I 497, 546 ff.). Vgl. dodis.ch/53990. Vgl. dazu auch das BR-Prot. Nr. 2136 vom 21. Dezember 1981, dodis.ch/59447.↩
- 31
- Anmerkung im Original: Vgl. Dietrich Schindler, Kollektive Sicherheit der Vereinten Nationen und dauernde Neutralität der Schweiz, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht, Heft 4/1992, S. 435 ff.; Daniel Thürer, UN Enforcement Measures and Neutrality: The Case of Switzerland: Archiv des Völkerrechts 30, 1992, S. 63 ff.; Christian Dominicé, La neutralité de la Suisse au carrefour de l’Europe, Sonderdruck aus: Semaine judiciaire 1991, S. 398 ff.; Jacques-Michel Grossen, Quelques aspects juridiques du conflit du Golfe, Sonderdruck aus: Recueil de Jurisprudence Neuchâteloise, 1992, S. 9 ff.↩
- 32
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Golfkrise (1990–1991), dodis.ch/T1673.↩
- 33
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Jugoslawienkriege (1991–2001), dodis.ch/T1915.↩
- 34
- Für das vollständige Dokument vgl. das Faksimile dodis.ch/54677.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/59120 | refers to | http://dodis.ch/54677 |
http://dodis.ch/62879 | Federal Council decree to | http://dodis.ch/54677 |
http://dodis.ch/54677 | is discussed in | http://dodis.ch/61212 |
http://dodis.ch/66368 | refers to | http://dodis.ch/54677 |
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Report on Switzerland's foreign policy in the 1990s (1993)
Human Rights Security policy Europe's Organisations Neutrality policy GATT