Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 12, doc. 344
volume linkBern 1994
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#123* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 65 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 39 (1938–1938) |
dodis.ch/46604
Vertraulich wurde mir vom rumänischen Gesandten mitgeteilt, dass er von seiner Regierung angefragt worden sei, welche Bewandtnis es mit der Nachricht habe, wonach Hitler beabsichtige, noch vor dem diesjährigen Parteitag das tschechoslowakische Problem zu lösen; nach der gleichen Nachricht soll Hitler dies einem ausländischen Botschafter gesagt haben. Der rumänische Gesandte antwortete, dass diese Meldung nach seinen Erhebungen keine Bestätigung finde. Sie sei schon deshalb kaum zutreffend, weil Hitler in der letzten Zeit nachgewiesenermassen keinen Botschafter empfangen habe und weil der diesjährige Parteitag im Zeichen der Wiedervereinigung Österreichs mit Grossdeutschland stehe. Die Nachricht, die auch in den «Basler Nachrichten» wenigstens teilweise wiedergegeben wurde, halte auch ich für eine Kombination wahrscheinlich aus einer ähnlichen Quelle wie die in der «News Chronicle» enthaltenen angeblichen Enthüllungen über Auslassungen des Generaloberst von Reichenau. Richtig ist, dass man im Auswärtigen Amt sich nach wie vor beunruhigt zeigt wegen der Haltung gewisser Prager Kreise, die es auf eine Provokation Deutschlands abgesehen hätten. Auch hat in den letzten Tagen im Hinblick auf das angekündigte Autonomiestatut die Pressehetze, die offensichtlich inspiriert ist, neu eingesetzt.
Trotzdem wäre es kaum zutreffend anzunehmen, dass Deutschland in absehbarer Zeit zu einer militärischen Lösung schreitet. Hierfür ist die internationale Lage (Spanien und China) nicht günstig. Ferner aber würde ein solches Vorgehen nicht den bisherigen bewährten Methoden Hitlers entsprechen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er heute, nachdem er sein Lebensziel, nämlich die Vereinigung seiner Heimat mit Deutschland erreicht hat, wegen der Sudetendeutschen sein Land in einen unabsehbaren Krieg verwickeln wird. Es liegt ihm auch viel zu viel an dem nationalsozialistischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau des Staates, an dem Bau der Autobahnen und Wasserstrassen, dem Ausbau der Städte; dieses in Ausführung befindliche Programm müsste, falls ein Krieg ausbrechen würde oder auch nur wenn er beabsichtigt wäre, sofort unterbrochen werden.
Dazu kommt, dass auch Italien, wie ich aus Ausführungen des italienischen Botschafters schliessen kann, keinen Krieg im gegenwärtigen Moment wünscht, und Deutschland anlässlich der Ereignisse vom 21. Mai vor der Gefahr eines allgemeinen Krieges gewarnt hat. Im gleichen Sinne wirkt bekanntlieh auch England sowohl in Prag als auch in Berlin. Der Pessimismus, der in Paris geäussert wird und über den mein dortiger Kollege berichtete, dürfte, von hier aus beurteilt, nicht berechtigt sein, soweit er sich auf die Erhaltung des Friedens bezieht. Die Befürchtungen im Auswärtigen Amt wegen der angeblichen Kriegspartei in Prag sind wohl mehr als Warnung zu deuten. Diese Kreise, die den Krieg im heutigen Zeitpunkt einer zermürbenden Dauerkrise vorziehen, müssen sich aber darüber klar sein, dass bei einem initiativen Vorgehen es sehr fraglich ist, ob die Tschechoslowakei auf die Unterstützung der Westmächte wird rechnen können. Infolgedessen ist kaum anzunehmen, dass die vom Auswärtigen Amt befürchteten Provokationen Deutschland dazu drängen werden, militärische Massnahmen zu ergreifen. Berechtigt ist aber der in Paris geäusserte Pessimismus in Bezug auf die Erhaltung der Tschechoslowakei in den jetzigen Grenzen und mit der bisherigen Aussenpolitik. Die deutschen Ziele werden sich in dieser Hinsicht nicht ändern; das zeigt die inspirierte Haltung der deutschen Presse. Meinem bulgarischen Kollegen kann ich allerdings nicht beipflichten, wenn er glaubt, dass schon in der nächsten Zeit eine umfassende Änderung im Verständigungswege eintreten wird. Viel wahrscheinlicher dürfte sein, dass sich diese Änderung in Etappen vollzieht. Aber die Erreichung der Ziele der deutschen Aussenpolitik ist in Anbetracht der geographischen und innerpolitischen Lage der Tschechoslowakei wohl nur eine Frage der Zeit.
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Sudeten Crisis and Munich Agreement (1938)