dodis.ch/45050
Der schweizerische Gesandte in
Berlin,
H.Rüfenacht, an den Vorsteher des Politischen Departementes, G. Motta
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In Ergänzung meines Schreibens von gestern2 betreffend die Anfrage des Französischen Botschafters über den schweizerisch-deutschen Schiedsvertrag beehre ich mich, Ihnen mitzuteilen, dass mich gestern Abend nach einem Diner der Reichsaussenminister Stresemann interpellierte über ein angeblich von der Schweiz gestelltes und von Deutschland abgelehntes Ansuchen auf Erweiterung des erwähnten Vertrages. Er sagte mir, bei den Deutschen Botschaften in Paris und London beklagen sich Herriot und Chamberlain über diese vermeintliche Haltung von Deutschland, und hier habe de Margerie mit ihm gesprochen. Er wisse aber von keinem schweizerischen Schritt, und auch eine telegraphische Anfrage bei der Deutschen Gesandtschaft in Bern habe keine Aufklärung gebracht. Ich konnte ihm nur bestätigen, dass unsere Gesandtschaft bis jetzt nicht beauftragt worden sei, der Deutschen Regierung einen Vorschlag auf Änderung des Vertrages zu unterbreiten.
Es ist immerhin auffallend, dass bei dieser Parallelaktion in Paris, London und Berlin übereinstimmend auf einen angeblichen Vorschlag der Schweiz Bezug genommen wird. Ich kann mir nur denken, dass vielleicht bei Abschluss des schweizerisch-italienischen Vertrages irgendwie der Wunsch geäussert worden ist, die gleiche Ausdehnung des Schiedsverfahrens mit der Zeit auch gegenüber ändern Ländern herbeizuführen. Ich erinnere mich dabei an ein Gespräch mit Herrn Ministerialdirektor Gauss vom Januar lf.Js., in dem er auf eine schweizerische Kritik des bestehenden schweizerisch-deutschen Vertrages Bezug nahm. Ich schrieb Ihnen darüber in meinem Politischen Bericht No. 2/1925 vom 29. Januar lf.Js.3 auf S. 5 unten folgendes:
«Hinsichtlich der vertraglichen Sicherung internationaler Beziehungen erwähne ich den letzter Tage erfolgten Abschluss eines Schiedsvertrages zwischen Deutschland und Finnland, dem der deutsch-schweizerische und der deutschschwedische Vertrag als Muster dienten. Der Chef der Rechtsabteilung, der mich hierüber unterrichtete, bedauerte dabei, dass nach in der Schweiz vertretener Auffassung der schweizerisch-deutsche Vertrag als zu wenig weitgehend und als überholt betrachtet werde. Er meinte, Deutschland würde auch heute einen weitergehenden Vertrag nicht abschliessen können. Denn solange ein feststehendes und eingehend kodifiziertes Völkerrecht nicht bestehe, könne es einem Lande wie Deutschland nicht zugemutet werden, sich in gewissen Fragen der mit seinen grundsätzlichen Anschauungen vielleicht unvereinbaren Entscheidung eines Schiedsgerichtes auszuliefern.»
Wer die von Herrn Gauss erwähnte schweizerische Auffassung vertreten hat, sagte er mir nicht, wenigstens erinnere ich mich nicht daran.