Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 112
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001A#1000/45#742* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(A)1000/45 95 | |
Dossier title | Nr. 724. Depeschen und Berichte der schweizerischen Gesandten in Rom, Wien, Berlin, Paris und London zum Kriegseintritt Italiens, März-Juni (1915–1915) | |
File reference archive | B.272.14 |
dodis.ch/43387
Gestern habe ich Ihnen ausführlich Bericht erstattet über eine Besprechung mit dem Fürsten Bülow und heute muss ich zu meinem Bedauern melden, dass meine Zuversicht auf eine Erhaltung des Friedens in Italien einen neuen Stoss erhalten hat durch Beobachtungen, die ich gestern Abend gemacht habe und durch Mitteilungen, die Herr Lardy erhalten hat.
Nach meinen Beobachtungen herrscht in den Kreisen der österreichischen Botschaft eine sehr pessimistische Auffassung über die Möglichkeit einer Verständigung mit Italien und der Erhaltung des Friedens mit diesem Lande. Der Botschaftsrat der österreichischen Botschaft gab mir zu verstehen, dass es Österreich keineswegs an dem guten Willen fehle, entgegenzukommen, dass man aber mehr und mehr zur Überzeugung komme, dass Italien die Verständigung nicht wolle und die Verhandlungen nur führe, um Zeit zu gewinnen für seine vollständige Bereitschaft zur Intervention. Tatsache ist, dass in der Nacht von gestern auf heute eine neue Klasse einberufen worden ist, und zwar nicht durch öffentliche Bekanntmachung, sondern durch persönliche Zustellung. Es wird mir ferner mit aller Bestimmtheit versichert, dass in den letzten Tagen starke Verschiebung von Truppen nach der Nordgrenze stattgefunden haben. In militärischen Kreisen ist man vollständig überzeugt davon, dass der Krieg in längstens 10 bis 14 Tagen ausgebrochen sein werde. Auch diejenigen Deutschen und Österreicher, welche bisher zurückgeblieben sind, rüsten sich zu rascher Abreise.
Letzter Tage haben sich auf der Gesandtschaft zwei Schweizer Damen eingestellt, die hier eine Pension betrieben haben, und denen man von Polizei wegen nahegelegt hat, spätestens auf Ende des Monates das Land zu verlassen.
Herr Lardy hat gestern aus Kreisen der englischen Botschaft gehört, dass der englische Botschafter Rodd sich ganz bestimmt dahin ausgesprochen habe, dass der Eintritt Italiens beschlossene Sache sei und noch vor Anfang Mai erfolgen werde. Ganz gleichlautend ist eine Erklärung des Sekretärs der englischen Gesandtschaft beim Vatikan. Sicher scheint mir, und das stimmt mit den Mitteilungen des Fürsten Bülow, dass in neuester Zeit von England aus ein ganz gewaltiger Druck auf Italien ausgeübt worden ist, und dass damit weitgehende Versprechungen Hand in Hand gegangen sind. Anscheinend verhält sich die französische Botschaft in dieser Richtung viel reservierter, was sich sehr leicht aus der Erwägung erklärt, dass die Belohnung Italiens aller Wahrscheinlichkeit auf dem Rücken der künftigen Stellung Frankreiches erfolgen würde.
Und soeben berichtet mir Herr von Sonnenberg, dass er Gelegenheit hatte, mit einer Dame der hiesigen Aristokratie zu sprechen, die als sehr germanophil gilt und bisher entsprechend zuversichtlich war. Diese Dame konnte Herren von Sonnenberg mitteilen, dass in den Kreisen der römischen Freunde des Dreibundes beinahe jede Hoffnung auf Erhaltung des Friedens gesunken sei. Man betrachtet auch da den Kriegsausbruch als unvermeidlich, wenn es nicht dem Willen des Königs und den Bemühungen Giolittis, der hier erwartet wird, im letzten Augenblick gelingt, einen Umschwung herbeizuführen.
Endlich haben wir in Erfahrung gebracht, dass im Hafen von Taranto ungefähr 30000 Mann konzentriert sind und sehr viel Transportmaterial. Wohin soll dieser Transport gehen? Wahrscheinlich in der Richtung der Dardanellen, denn es ist nicht anzunehmen, dass man Transporte nach Albanien in diesem Hafen abfertigen würde.
Mit dem heutigen Aufgebot des Jahrganges 1911 soll die Präsenzstärke der italienischen Armee auf 800 000 Mann gebracht werden. Ich gebe Ihnen die vorstehenden Mitteilungen als weiteres Stimmungsbild und füge bei, dass ich ernstlich mit der Wahrscheinlichkeit des Kriegsausbruches rechne, nachdem ich mich überzeugt habe, dass diese Auffassung in nächstbeteiligten Kreisen besteht. Die relative Ruhe der letzten Tage dürfte also die Ruhe vor dem Sturm gewesen sein.
Man hat mir von wohlunterrichteter Seite mitgeteilt, dass der Minister des Auswärtigen den Krieg wolle, weil er die inneren Unruhen fürchtet, die im Falle einer Verständigung mit Österreich ihm unvermeidlich zu sein scheinen. Er soll gesagt haben: wenn ich zwischen dem Krieg und der Revolution zu wählen habe, so ziehe ich den ersteren vor.
Unter diesen Umständen scheint es mir nun doch sehr wünschenswert, dass wir das Abkommen betreffend die künftige Regelung des Austausches2 so rasch als möglich unter Dach bringen und uns nicht zu sehr aufhalten bei dem ungenügenden Entgegenkommen in einzelnen Punkten.
P.S. Die Mitteilungen, die Herr von Sonnenberg mir machen konnte, gewinnen dadurch an Bedeutung, dass sie auf Äusserungen des italienischen Senators Blaser na zurückzuführen sind, eines alten und intimen Freundes der Villa Malta (Fürst Bülow). Der Genannte soll sich dahin ausgesprochen haben, dass die Situation äusserst bedenklich sei und dass die Erhaltung des Friedens nur dann noch möglich sei, wenn der König im entscheidenden Augenblick Widerstand leisten würde.
Ich möchte diesen äussersten Pessimismus nicht teilen, aber ich kann mir auch nicht verhehlen, dass die Lage sich sehr ernst gestaltet hat.
Soeben erreicht mich Ihr Auftrag betreffend die Neuregelung des Transites für Waren, die nach Neujahr an Ordre angelangt sind. So sehr ich wünschen würde, die Verhandlungen rasch einzuleiten, so bestimmt ist mein Eindruck, dass der gegenwärtige Augenblick nicht geeignet wäre. Ich werde zunächst beim englischen Botschafter vorsprechen.
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