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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 25, doc. 133
volume linkZürich/Locarno/Genève 2014
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E-01#1987/78#4835* |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)-01/1987/78 749 |
Dossier title | Verbotener Nachrichtendienst der russischen Diplomaten: Karssov Vladimir M., Logatchev Semen, Lézine Oleg (1971–1975) |
File reference archive | A.44.21.(1) • Additional component: Russland |
dodis.ch/35536 SPIONAGEFALL KARSSOV, LOGATCHEV (BEIDE UDSSR) UND MASCO (USA)
1. Was den zweiten Sekretär der Botschaft der UdSSR Karssov anbetrifft, scheint die Beweislage klar zu sein. Es wäre immerhin zweckmässig, wenn die Bundesanwaltschaft weitere Angaben mit Bezug auf diesen Funktionär, der seit langem als KGB-Agent bekannt sein soll, liefern könnte. Der Bundesanwalt erklärt in seinem Schreiben2 an den Vorsteher des EJPD, weitere Unterlagen könnten zur Verfügung gestellt werden.
Dies gilt in vermehrtem Masse mit Bezug auf Logatchev, der in vorliegender Sache lediglich als Schmiersteher in Erscheinung tritt und durch Masco nicht belastet wird. Es geht um die hieb- und stichfeste Begründung gegenüber der Sowjetbotschaft.
Grundsätzlich können wir damit einverstanden sein, dass die Rückberufung dieser beiden Agenten in die Wege geleitet wird.
2. Aus folgenden Gründen scheint uns aber eine diskrete Behandlung am Platz zu sein:
a) Die Tätigkeit der Beiden richtete sich nicht gegen die Schweiz. Der Tatbestand fällt unter Artikel 301 StGB betr. Nachrichtendienst gegen fremde Staaten. Die vorgesehene Strafe ist Gefängnis oder Busse, also milder als im Falle des Art. 272 betr. den politischen Nachrichtendienst, der in den meisten früheren Fällen verletzt wurde.
3. In verschiedenen Fällen der vergangenen Jahre, die unter Art. 272 StGB zu subsumieren waren, wurde eine mehr oder weniger diskrete Regelung angestrebt. So wurden 1966 im schwerwiegenden Falle Kuo Yu Shou3 (langjährige Spionagetätigkeit eines Nationalchinesen zu Gunsten der Volksrepublik China) die Namen der Beteiligten nicht bekanntgegeben. Lediglich ein Funktionär4 der rotchinesischen Botschaft wurde als persona non grata erklärt. Bezüglich eines weiteren Beteiligten5 dieser Botschaft wurde den Chinesen lediglich empfohlen, die nötigen Konsequenzen zu ziehen.
Im Falle Modin/Frolov6 (UdSSR), wo sich die Tätigkeit ebenfalls gegen die Schweiz richtete, wurden auch keine Namen genannt (1960).
Im Falle der versuchten Wirtschaftsspionage gegen die Schweiz des Jugoslawen Zlatkovic7 (1960) wurde diskrete Behandlung angestrebt.
Im Falle Petrov8 (UdSSR, 1967) wurde kein Name genannt, obwohl sich seine Tätigkeit gegen die Schweiz und gegen fremde Staaten gerichtet hatte.
Im Falle Laszlo9 (Ungarn, 1967), der sich gegen Art. 272 StGB vergangen hatte, wurde ein Communiqué erst nach drei Monaten veröffentlicht, als man die von den Ungaren ergriffenen Gegenmassnahmen erklären musste. Im Prinzip hätte man im Interesse der gegenseitigen Beziehungen auf ein Communiqué verzichten wollen.
d) Eine diskrete Behandlung erscheint vorliegendenfalls auch deshalb als möglich, als es offenbar in der Schweiz zu keinem Verfahren kommen kann, da Masco in Amerika abgeurteilt werden soll.
e) Die Beweisführung kann sich im wesentlichen nur auf Angaben des FBI stützen, was uns bei Bekanntwerden den Vorwurf des Eingehens auf eine Provokation einbringen könnte.
Warum wurde Masco nicht nach Verlassen der US-Botschaft angehalten? Zwischen 20 Uhr abends und 1 Uhr morgens hätten für die Polizei die Möglichkeiten bestanden, sich die erforderlichen Ermächtigungen zu beschaffen. Masco blieb übrigens nach dem Treffen auf der Sowjetbotschaft in Bern noch bis 7. 3. 71 in der Schweiz und hätte auch nachträglich noch einvernommen werden können. Masco war bereits nach seiner Einreise in die Schweiz Ende 1970 verdächtigt. Warum wurde keine Einreisekontrolle gegen ihn errichtet? Es hätte dies seine Verhaftung im Februar 1971 herbeiführen können10.
f) Ganz abgesehen davon, müssen neben den innenpolitischen auch die aussenpolitischen Aspekte berücksichtigt werden.
Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion sind gegenwärtig als gut zu bezeichnen11. Es kam dies neulich zum Ausdruck in der Angelegenheit de Perregaux12. Mitbestimmend für die positive Haltung der Sowjetunion sind zweifellos die Erwartungen, die in die neutrale Schweiz im Hinblick auf die bevorstehende Sicherheitskonferenz gesetzt werden. Es muss daher damit gerechnet werden, dass bei allzu grosser Publizität die Schweiz verdächtigt wird, die Sowjetunion im Vorstadium der Konferenz in Misskredit bringen zu wollen. Gerade im Falle eines neutralen Kleinstaates könnte dieser Vorwurf in besonders scharfer Form vorgetragen werden (insbesondere bei allfälligem Bekanntwerden unserer Informationsquelle FBI). Anlässlich des Besuches von Botschafter Micheli in Moskau13 wurde sowjetischerseits der besondere moralische Stellenwert der Schweiz herausgestrichen.
4. Im Falle Buttex/Sterlikov/Savine14 1970 (Ausweisung zweier Sowjetdiplomaten) hat die UdSSR keine Retorsionsmassnahmen ergriffen. Damals erfolgte eine Publikation15 mit Namensnennung. Es ist fraglich, ob – so kurz darnach – die Sowjetunion sich heute gleich verhalten wird. Die Erklärung zur persona non grata kann vorliegendenfalls, eher als im Falle Buttex (wo sie auch nicht erfolgte) vermieden werden.
5. Auf Grund dieser Überlegungen scheint es uns, es könnte verantwortet werden, den vorliegenden Fall diskret zu behandeln.
Dem Sowjetbotschafter16 wäre unsere Entrüstung über die Tätigkeit der beiden Botschaftsangehörigen unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen. Es wäre ihm die Rückberufung der beiden Funktionäre nahe zu legen und für den Fall der Nichtbefolgung die Erklärung der Beiden zur persona non grata anzudrohen. Für die Sowjets ist Einlenken umso weniger schwierig, als die Beiden bereits seit 1967 in der Schweiz weilen. Unser Entgegenkommen wäre damit zu begründen, dass wir Wert darauf legen, die guten Beziehungen zwischen der Schweiz und der UdSSR nicht zu stören. Es sei dies auch der Grund, weshalb wir auf eine Publizität verzichten.
Sollten die Sowjets dieses Vorgehen nicht annehmen, dann erst wäre zu schärferen Massnahmen zu schreiten.
6. Sofern Sie damit einverstanden sind, würden wir die Angelegenheit in diesem Sinne mit der Bundesanwaltschaft aufnehmen, die mit einer blossen Rückberufung einverstanden ist, aber ein Pressecommuniqué mit Namensnennung herausgeben möchte.
Rückzugslinie: Rückberufung mit Communiqué ohne Namensnennung17.
- 2
- Schreiben von H. Walder an K. Furgler vom 19. April 1972, Doss. wie Anm. 1.↩
- 3
- Vgl. dazu DDS, Bd. 23, Dok. 167, dodis.ch/30917, Anm. 2.↩
- 5
- Hsu Tan-lu.↩
- 6
- Vgl. dazu die Notiz von R. Probst vom 21. Mai 1960, dodis.ch/15352.↩
- 7
- Vgl. dazu Doss. CH-BAR#E4320C#1994/151#6* (01).↩
- 8
- Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 174, dodis.ch/33128, bes. Anm. 2.↩
- 9
- Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 42, dodis.ch/32217, bes. Anm. 15.↩
- 10
- Zum Verzicht auf Strafverfolgung und Ausweisung G. F. Mascos vgl. Vgl. Doss. CH-BAR#E2001E-01#1987/78#1577* (B.11.43).↩
- 11
- Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 82, dodis.ch/35535; Dok. 104, dodis.ch/35620 und Dok. 172, dodis.ch/35655.↩
- 12
- Vgl. dazu das Schreiben von H. Miesch an A. Escher vom 29. Oktober 1970, dodis.ch/35613; das Schreiben von A. Zehnder an H. Miesch vom 8. Dezember 1970, dodis.ch/35612 und die Notiz von P.-A. Ramseyer an E. Thalmann vom 3. Januar 1972, dodis.ch/35580.↩
- 13
- Zu den Gesprächen P. Michelis in Moskau vgl. das Schreiben von J. de Stoutz an E. Thalmann vom 1. Februar 1971, dodis.ch/35577.↩
- 14
- Vgl. dazu Doss. CH-BAR#E2001E#1980/83#243* (B.11.43.1). Vgl. ferner das BR-Beschlussprot. II vom 12. Februar 1970 der 6. Sitzung vom 11. Februar 1970, CH-BAR#E1003#1994/26#13*.↩
- 15
- Pressemitteilung des Justiz- und Polizeidepartements vom 8. Juni 1970, CH-BAR#E2001E#1980/83#243* (B.11.43.1). In diesem Zusammenhang vgl. auch den Fall von L. Selmair, BR-Prot. Nr. 1025 vom 8. Juni 1970, dodis.ch/36054.↩
- 17
- Handschriftliche Marginalie von H. Miesch: Nach Abfassung der Notiz hatte ich ein Gespräch mit Bundesanwalt Walder, der absolut auf ein Communiqué mit Namensnennung drängt. Kann ich die Angelegenheit mit Ihnen besprechen. Vgl. dazu auch das Telegramm Nr. 89 des Politischen Departements an die schweizerische Botschaft in Moskau vom 27. April 1972, dodis.ch/35571.↩
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