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Schweizer Aussenpolitik 1976–1978: Der neue Band ist da!

«Die Aktivierung unserer Aussenpolitik ist im Gang», gab sich der Vorsteher des Eidg. Politischen Departements (EPD, heute EDA), Bundesrat Pierre Graber, im Exklusiv-Interview mit der Luzerner Zeitung im Februar 1976 überzeugt. Gerade die Erfahrungen der Ölkrise und der Rezession der vergangenen Jahre zeige der Schweiz, «dass sich die Weltpolitik nicht auf einem anderen Planenten abspielt, sondern jeden von uns in seinem täglichen Leben direkt berührt» (Dok. 1, dodis.ch/50064). Öffnung und Normalisierung prägten die schweizerischen Aussenbeziehungen der Jahre 1976–1978. Dies zeigen die frisch publizierten Dokumente im neuen Band der Aktenedition Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS) und der Online-Datenbank Dodis.

Neue Universalität 

Der KSZE-Prozess sowie der Nord-Süd-Dialog eröffneten der Schweizer Diplomatie neue Handlungsspielräume. Gleichzeitig fühlte sich der Bundesrat vermehrt verpflichtet, gegenüber dem Ausland «bei strikter Beachtung des Prinzips der Nicht-Einmischung, wo und wenn immer möglich, humanitäre Gesichtspunkte noch besser» zu berücksichtigen (Dok. 40, dodis.ch/48733). Unter der zentralen Maxime der Solidarität war das junge Schweizerische Katastrophenhilfekorps in diversen Weltregionen im Einsatz (Dok. 50, dodis.ch/51467). Ab 1978 kam mit Bundesrat Pierre Aubert der Fokus Menschenrechtspolitik hinzu (Dok. 114, dodis.ch/49960). Die verstärkte Reisediplomatie des neuen Aussenministers in Regionen der «Dritten Welt» und nach Osteuropa stand sinnbildlich für die neue Universalität und Disponibilität der schweizerischen Aussenpolitik (Dok. 111, dodis.ch/52279 und Dok. 146, dodis.ch/49310). 

Neue aussenpolitische Akteure 

Nicht überall stiess die neue Öffnungsdynamik auf Gegenliebe. Innerhalb seines Departements stiess Aubert auf erheblichen Widerstand (Dok. 143, dodis.ch/48700). Nach nur vier Monaten im Amt versuchte er zu beschwichtigen: «Diese neuen Richtungen ersetzen natürlich nicht die traditionellen Werte unserer Diplomatie: Sie ergänzen und stärken sie», so Aubert in einem Rundschreiben. «Sie sind die natürliche Folge des stärkeren Engagements unseres Landes auf der Weltbühne, das Anfang der 1970er Jahre begonnen hat und nun erste Früchte trägt» (Dok. 146, dodis.ch/49310). Das schweizerische Stimmvolk hatte bereits in den Jahren davor mehr Mitspracherechte in aussenpolitischen Belangen eingefordert: 1976 schickte es ein Darlehen über 200 Millionen Franken an die International Development Association (IDA) bachab und hiess 1977 eine Ausweitung des Staatsvertragsreferendum gut (Dok. 46, dodis.ch/50063). Neben Stimmvolk und Parlament nahm ausserdem eine wachsende Zahl von Ämtern anderer Departemente Einfluss auf die Aussenpolitik, in dem sie in eigener Regie internationale Beziehungen unterhielt – eine Entwicklung, die das EPD mit mässiger Begeisterung beobachtete (Dok. 68, dodis.ch/49412). 

Basis der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit 

Mit der Ablehnung des IDA-Kredits verfehlte der Bundesrat sein Ziel, die Unterstützungsleistungen der Schweiz den anderen Industriestaaten anzunähern (Dok. 24, dodis.ch/50286). «In unserem Land besteht wahrscheinlich noch ein zu kleines Bewusstsein für die wirtschaftliche und politische Bedeutung von Entwicklungsproblemen», hielten Graber und der Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements, Bundesrat Ernst Brugger, fest (Dok. 77, dodis.ch/50202). In der Folge stand die Schweiz unter beachtlichem Druck, ihr Engagement in der Entwicklungshilfe zu erhöhen (Dok. 174, dodis.ch/51862). Sie wandelte Finanzhilfekredite von Entwicklungsländern in Geschenke um (Dok. 75, dodis.ch/51697), schloss Investitionsschutzabkommen (Dok. 13, dodis.ch/48176) und trat als Kreditgeberin in den staatssozialistischen Ländern Osteuropas auf (Dok. 70, dodis.ch/49268). Das 1976 in Kraft tretende Bundesgesetz über Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe ist bis heute die Grundlage der Finanzierung der öffentlichen Entwicklungshilfe der Schweiz. 

Exportförderung und Kapitalmarktinterventionen 

Um die Wirtschaft in dieser Zeit der weltweiten Rezession und des starken Frankens zu unterstützen, reagierte die Schweiz mit Exportförderungsmassnahmen (Dok. 82, dodis.ch/51314 und Dok. 137, dodis.ch/51315). Die Zusammenarbeit zwischen Botschaften und Handelsabteilung wurde intensiviert und der Aussenhandel stark erweitert (Dok. 110, dodis.ch/49450). Gleichzeitig setzte die Regierung auf Interventionen im internationalen Kapitalmarkt (Dok. 175, dodis.ch/50145). Als zentraler Partner in den Stützungsmassnahmen erwies sich Japan, zu dem eine frappante Analogie der Situation und «un intérêt commun pour une meilleure coordination internationale des politiques monétaire et de change» festgestellt wurde (Dok. 194, dodis.ch/52263). Während die neue Währungspolitik international begrüsst wurde (Dok. 180, dodis.ch/50147), sorgte das Schweizer Bankgeheimnis auch in diesen Jahren für Kritik. Der Skandal der Crédit Suisse in Chiasso löste in der Weltpresse «Schadenfreude» aus (Dok. 62, dodis.ch/49601). Diesmal standen nicht mehr nur die Banken, sondern auch der Bundesrat in der Kritik (Dok. 49, dodis.ch/50107). 

Brisanzverlust des Migrationsdossiers 

Unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise und der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit wanderten zahlreiche ausländische Arbeitskräfte in ihre Herkunftsländer zurück. Infolge dessen und im Hinblick auf das geplante neue Ausländergesetz kam es insbesondere mit Spanien und Italien zu Diskussionen (Dok. 118, dodis.ch/49424). Zur Sprache kam auch die Schulung der Kinder von Migrantinnen und Migranten in Muttersprache und heimatlicher Kultur. Im Falle der Aktivitäten der jugoslawischen Konsulate befürchteten Bundesanwaltschaft und Fremdenpolizei «einen unstatthaften Eingriff in unsere politische Ordnung» (Dok. 27, dodis.ch/48951). Indes bemühte sich die Schweiz, durch die Aufnahme von «boat people» und anderen Personen aus Südostasien einen Beitrag zur internationalen Lösung der sich verschärfenden Flüchtlingskrise in dieser Region zu leisten (Dok. 193, dodis.ch/50287). 

Internationale Integration – ein schwieriger Kampf 

Politisch kontrovers blieb die Frage der Schweizer Mitgliedschaft in internationalen Organisationen: «Im Prinzip ist der Beitritt der Schweiz zur UNO wünschenswert. Aber die öffentliche Meinung ist heute noch nicht reif dafür», wurde resümiert (Dok. 2, dodis.ch/51501). Auch nachdem sich die Regierung dazu entschlossen hatte, die Beitrittsfrage dem Volk vorzulegen, war sie sich bewusst, «dass der Kampf schwer zu gewinnen sein wird» (Dok. 156, dodis.ch/51504). Ihre Zielsetzungen im europäischen Integrationsprozess versuchte die Schweiz durch Konsultationen mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) zu erreichen. Dazu gehörten Verhandlungen zu einem Versicherungsabkommen (Dok. 87, dodis.ch/49375), dem grenzüberschreitenden Omnibusverkehr (Dok. 55, dodis.ch/48103) oder der Forschung (Dok. 57, dodis.ch/49339). Mit dem Wegfall der meisten Restzölle zwischen EG und EFTA wurde die Öffnung der Märkte in Westeuropa und damit «eines der wichtigsten handelspolitischen Ziele der Nachkriegszeit» erreicht (Dok. 183, dodis.ch/49374). 

Über jeden Verdacht erhaben? 

Die fehlende UNO-Mitgliedschaft hatte auch im sicherheitspolitischen Bereich Auswirkungen: An der UNO-Generalversammlung konnte die Schweiz zum dominierenden Thema Abrüstung keine Stellung beziehen (Dok. 166, dodis.ch/48273). Dafür ratifizierte die Schweiz acht Jahre nach Unterzeichnung den Atomwaffensperrvertrag, verpflichtete sich zu dessen Umsetzung mit der Internationalen Atomenergieagentur und trat dem sogenannten Londoner Club für Nuklearexporte bei, denn: «Es gibt keine echte Alternative» (Dok. 36, dodis.ch/50138). 

Mit Erleichterung konnte ausserdem festgestellt werden, dass die Beschaffung des neuen schweizerischen Kampfflugzeugs Tiger F-5 nicht vom Skandal um den US-Flugzeugproduzenten Lockheed tangiert war (Dok. 11, dodis.ch/49318). Die internationale Schmiergeldaffäre hatte auch in der Schweiz hohe Wellen geworfen und zu parlamentarischen Anfragen geführt. Die Affäre um Brigadier Jean-Louis Jeanmaire, der 1977 auf Grund der Weitergabe klassifizierter Informationen wegen Landesverrat angeklagt wurde, zog dagegen weitere Kreise (Dok. 51, dodis.ch/52005) – genauso die Aufdeckung von Spionageaktivitäten ausländischer Diplomaten in der Schweiz (Dok. 80, dodis.ch/49449). Die Jahre 1976–1978 offenbaren so auch das Bild einer Schweiz, die immer weniger «über jeden Verdacht erhaben» schien.  

01. 03. 2022