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Neue Dokumente zur Schweizer Aussenpolitik 1993

Vor dem Eingang zum Landgut Lohn in Kehrsatz bei Bern gab es für die Fotografen noch einmal einen kräftigen Händedruck und ein Lächeln mit dem hohen Gast, dann verschwanden Bundespräsident Adolf Ogi sowie die Bundesräte Flavio Cotti und Kaspar Villiger mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl im Inneren des Gebäudes. Das für die Schweiz vielleicht wichtigste europapolitische Gespräch nach der Ablehnung des Vertrags über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) durch die Stimmbevölkerung im Jahr zuvor fand an jenem 18. Oktober 1993 hinter verschlossenen Türen unter acht Augen statt. Die handschriftlichen Notizen Bundespräsident Ogis geben einen Einblick in die Gesprächsthemen (dodis.ch/64997).

Der Besuch von Bundeskanzler Kohl bildete einen Höhepunkt der aussenpolitischen Aktivitäten der Schweiz im Jahr 1993. Die Forschungsstelle Dodis hat zahlreiche Dokumente zu diesem Jahr, das eine schwierige Phase der Neuorientierung darstellt, ausgewertet und eine Auswahl davon pünktlich nach Ablauf ihrer gesetzlichen Schutzfrist am 1. Januar 2024 in der Datenbank Dodis und dem neusten Band der Diplomatischen Dokumente der Schweiz veröffentlicht. «Die Akten zeigen», sagt Dodis-Direktor Sacha Zala, «dass der Bundesrat als Reaktion auf die Schockstarre nach dem EWR-Nein eine beispiellose Besuchsoffensive lancierte, dank der gegen Ende Jahr bilaterale sektorielle Verhandlungen mit der Europäischen Union aufgenommen werden konnten.»

Mehrspurige Integrationsstrategie

Im Nachgang zur historischen Abstimmungsniederlage vom 6. Dezember 1992 verfolgte der Bundesrat eine mehrspurige Integrationsstrategie: Einerseits hielt er an seinem langfristigen Ziel einer Mitgliedschaft in der EU fest und zog deshalb das Gesuch um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen vom 18. Mai 1992 nicht zurück. Der Bundesrat schloss ebenfalls nicht aus, dass die Schweiz zu einem späteren Zeitpunkt dem EWR beitreten würde. Das primäre Ziel der Landesregierung stellte jedoch die Aufnahme bilateraler sektorieller Verhandlungen mit der EG dar. Wie die Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz und Flavio Cotti, der im Frühling vom zurückgetretenen René Felber das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) übernommen hatte, argumentierten gegenüber der EG-Kommission in Brüssel, «dass der bilaterale Ansatz unzureichend und provisorisch sei und dass das Ziel der Politik des Bundesrats nach wie vor der EG-Beitritt sei, möglicherweise über den EWR». Gleichzeitig betonten beide Bundesräte, dass es für eine künftige EG-Mitgliedschaft der Schweiz «wichtig sei, dass die EG der Schweizer Bevölkerung ein konziliantes Bild ihrer selbst vermittle, indem sie bereit sei, sektorielle bilaterale Abkommen zu schliessen» (dodis.ch/64936).

Besuchsreigen mit Major, Kohl und Mitterrand

Schon Anfang Jahr bemühte sich Bundespräsident Ogi anlässlich seiner Gespräche mit europäischen Gästen am Weltwirtschaftsforum in Davos darum, die schweizerische Position zu erklären (dodis.ch/62483). Anfang April weilte als erster in einer rekordhohen Zahl europäischer Spitzenpolitiker der britische Premierminister John Major in Bern (dodis.ch/62495). Beim Treffen im Oktober bekräftigte Bundeskanzler Kohl sein Wohlwollen gegenüber der Schweiz, liess jedoch bereits im Vorfeld durchschimmern, dass für ihn als überzeugten Europäer ein Einschwenken der Schweiz auf den Beitrittskurs «ein Gebot einfachster Einsicht» sei (dodis.ch/64059). «Schweizer Trotz nützt auf die lange Sicht nicht», mahnte Kohl (dodis.ch/64997). Schliesslich konnte Bundespräsident Ogi im Dezember 1993 auch Frankreichs Präsidenten François Mitterrand in seiner Heimat im Berner Oberland empfangen (dodis.ch/64150). So einen prominenten Besuchsreigen hatte es in der Schweiz noch nie gegeben. Kurz darauf reiste der Bundespräsident nach Madrid, um auf höchster Ebene mit dem «härtesten Verhandlungspartner innerhalb der EU in der Frage der Verabschiedung bilateraler Verhandlungsmandate» einen Neubeginn einzuläuten (dodis.ch/64162).

Globale Wirtschafts- und Finanzbeziehungen 

Dem omnipräsenten Fokus auf Europa versuchte die schweizerische Handelsdiplomatie entgegenzuwirken und zeigte sich auf globaler Ebene besonders vernetzungsfreudig. Im Zentrum stand 1993 der bilaterale Handel mit Malaysia und Thailand (dodis.ch/64330), Pakistan (dodis.ch/64319), Iran (dodis.ch/62522) und Marokko (dodis.ch/64610). Als wichtigstes Instrument für die Stärkung der aussereuropäischen Kontakte galt die Uruguay-Runde des GATT. Die bis anhin grösste Welthandelsvereinbarung der Geschichte konnte im Dezember nach acht zähen Verhandlungsjahren erfolgreich abgeschlossen werden (dodis.ch/64443). Konfliktlinien bildeten im Kontakt mit Malaysia die vom Umweltaktivisten Bruno Manser initiierte Debatte über ein schweizerisches Importverbot für Tropenholz (dodis.ch/64782). Während des Bewilligungsverfahrens für den Export von Trainingsflugzeugen nach Südafrika und Südkorea beteuerte die Pilatus Flugzeugwerke AG, bezüglich der Umrüstung ihrer Produkte zu Kriegsmaterial «vom früheren Katz und Maus Spiel» mit den Behörden abkommen zu wollen (dodis.ch/64743). Um illegale Geschäfte im grossen Stil ging es beim internationalen Drogenhandel, den die Schweiz mit der Entsendung von Polizeiattachés an Botschaften im Ausland zwecks Informationsbeschaffung vor Ort effektiver zu bekämpfen versuchte (dodis.ch/61948).

Zweifelhafte Geschäfte

Die Schweiz führte 1993 die Hilfe für die Staaten Mittel- und Osteuropas weiter. In Bezug auf die Nachfolgestaaten der Sowjetunion zeigte sich aber, dass diese den strengen Bedingungen für die Kreditvergabe – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, marktwirtschaftliche Reformen – oft nicht genügten. Da es sich insbesondere bei den zentralasiatischen Staaten, die mit der Schweiz zusammen die Ländergruppe bei den Bretton-Woods-Institutionen bildeten, um wichtige Partner handelte, sollten diese trotz mangelnden Reformen in den Genuss von Hilfsgeldern kommen. Die Schweiz habe mit ihrem Lead in der sogenannten «Helvetistan»-Gruppe «keine leichte Aufgabe übernommen», kommentierte das EDA anlässlich der Reise des Finanzministers, Bundesrat Otto Stich, nach Aserbaidschan, Kirgisistan, Turkmenistan und Usbekistan (dodis.ch/56844). Bald schon zeigten sich Schattenseiten der Beziehungen zum postsowjetischen Raum: «In letzter Zeit mehren sich Anzeichen über zweifelhafte Geschäfte von Angehörigen der Staaten der Ex-UdSSR mit dem Westen und namentlich mit der Schweiz», informierte EDA-Staatssekretär Jakob Kellenberger das Justiz- und Polizeidepartement. Das Land dürfe nicht zur Drehscheibe korrupter Mafia-Geschäfte werden, warnte er eindringlich (dodis.ch/61104).

Neutralität und NATO

Im November 1993 verabschiedete der Bundesrat das Ergebnis längerer konzeptioneller Überlegungen zur Rolle der Schweiz in den internationalen Beziehungen nach Ende des Kalten Krieges. Sein «Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 1990er Jahren» sah eine vermehrte Beteiligung der Schweiz an internationalen Prozessen vor. Gerade bezüglich einer Zusammenarbeit mit dem Nordatlantikpakt bestanden jedoch starke Vorbehalte. Justizminister Arnold Koller warnte in der Diskussion vor dahingehenden Avancen, «denn man kann nicht nur ein wenig schwanger sein» (dodis.ch/61211). Auch im Aussendepartement wurde befürchtet, dass eine Kooperation mit der NATO könnte «von Teilen der Bevölkerung als Aufgabe der Neutralität missverstanden werden» (dodis.ch/62714). Die von den USA lancierte Initiative einer lockeren «Partnership for Peace» entsprach dagegen gemäss EDA «ziemlich genau den Bedürfnissen der Schweiz nach einer sukzessiven Annäherung» in Richtung einer verteidigungs- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit der NATO (dodis.ch/65281). Schon im Mai fällte der Bundesrat den Grundsatzentscheid, dass die Erteilung von Überflugsbewilligungen zwecks Durchsetzung militärischer Zwangsmassnahmen der UNO mit der Neutralität vereinbar seien. Ende Jahr erlaubte er konkret NATO-Aufklärungsflugzeugen mit Ziel Bosnien und Herzegowina die Nutzung des schweizerischen Luftraums (dodis.ch/65276).

Triumphierende Gegner und gute Freunde

Am 9. November 1993 signalisierte der Rat der EU-Aussenminister die Bereitschaft der Gemeinschaft, mit der Schweiz in sektorielle bilaterale Verhandlungen einzutreten. Das erste Etappenziel des Bundesrats war erreicht. Hochgefühle wollten sich bei all jenen, die sich im Vorjahr für den EWR eingesetzt hatten, jedoch nicht einstellen. «Der Triumph liegt jetzt bei der Gegenseite», resümierte ein sozialdemokratischer Ständerat während einer Kommissionsdebatte: «Es war Blocher, der gesagt hat, die EG würde mit uns dann schon verhandeln, und der jetzt recht bekommt.» Bundesrat Cotti relativierte den Erfolg mit aller Vorsicht. Es hätten sich «gute Anwälte, wenn nicht gar Freunde, für die Schweiz eingesetzt», damit die Mitgliedstaaten sich bereit erklärten, auf die schweizerischen Verhandlungswünsche einzutreten. Bundesrat Delamuraz unterstrich, dass die Forderungen der EU nach einer Übernahme des Acquis communautaire, «cet institutionnel qui a fait si mal dans la discussion du 6 décembre», keinesfalls ausgeräumt seien und die institutionellen Konsequenzen für die Schweiz Gegenstand harter Verhandlungen sein würden (dodis.ch/65349).

«Die Charmeoffensive des Bundesrats hatte offensichtlich Wirkung gezeigt, die erste Hürde auf dem Weg hin zu bilateralen Verträgen mit der EU wurde Ende 1993 genommen», so Dodis-Direktor Sacha Zala. Trotzdem galt es bis zum Abschluss der Bilateralen Abkommen I im Jahr 1999 noch zahlreiche Hindernisse zu überwinden. Die Akten, die in den folgenden Jahren frei zugänglich werden, und die Forschungen von Dodis werden es zeigen. 

01. 01. 2024

Zum Band: DDS 1993

Zur Aufzeichnung der Vernissage: https://youtu.be/YepnRzemF4k