Der Vertrag von Lausanne

Als letzte der grossen Friedenskonferenzen, die nach dem Ersten Weltkrieg die Welt neu ordneten, zog die Konferenz von Lausanne Hunderte von Diplomaten, Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivisten an die Ufer des Genfersees, wo während Monaten zähe Verhandlungen über die Zukunft des Nahen Ostens geführt wurden. Zum Zeitpunkt der Aufnahme der Gespräche war die Lage brisant und die Unterzeichnung des Vertrags am 24. Juli 1923 stiftete nicht den erhofften Frieden. 

Ablehnung des Vertrags von Sèvres 

Ursprünglich hatten die Siegermächte nach Ende des Ersten Weltkriegs geplant, den Zerfall des Osmanischen Reichs im Vertrag von Sèvres zu regeln. Frankreich und Grossbritannien teilten das Gebiet nach ihrem Gutdünken auf und stellten den Armeniern, Kurden, Türken und Griechen eigene Nationalstaaten in Aussicht. Angesichts dieser Ausplünderung des besiegten Osmanischen Reichs lehnten türkisch-nationalistische Gruppen unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk den Vertrag von Sèvres ab und zogen erneut in den Krieg – gegen den Sultan und gegen Griechenland. Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, der Frieden würde «ein langwieriges Unterfangen» werden (dodis.ch/44692). 

Entstehung des türkischen Staates 

Nachdem die griechische Armee 1922 besiegt wurde, sahen sich die Vertragsparteien gezwungen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Dieses Mal schloss sich den europäischen Mächten Grossbritannien, Frankreich und Italien auch Japan an. Gemeinsam mit dem Gesandten aus Ankara unterzeichneten sie einen Vertrag, der auch die Königreiche von Rumänien und Griechenland, dasjenige der Serben, Kroaten und Slowenen sowie jenes der Bulgaren einschloss. Die neue Türkei unter Atatürk war damit international anerkannt.

Die Wahl Lausannes: zwischen Neutralität… 

Zunächst dachten die Parteien an ein Treffen in Smyrna, der Türkei gelang es jedoch nicht, die Westmächte davon zu überzeugen. Allmählich zeichnete sich die Idee eines schweizerischen Verhandlungsorts ab, konkret Lausanne oder Lugano (dodis.ch/65867). Ein gewichtiges Argument bildete die Neutralität der Schweiz aber auch ihre Hotellerie. Erst zwei Wochen vor Beginn der Konferenz, am 27. Oktober 1922, wurde der Bundesrat durch die französische Botschaft in Bern angefragt. Dieser stimmte der Austragung sogleich zu (dodis.ch/66193). Die anschliessenden Konferenzvorbereitung mussten aber deshalb in grösster Eile erfolgen (dodis.ch/65868). 

…und finanziellen Interessen der Schweiz 

Die offizielle Schweiz verfolgte mit der Beherbergung der Konferenz keine geopolitische Agenda, vielmehr standen touristische und private Interessen im Vordergrund: Die Bank für Orientalische Eisenbahnen aus Zürich, die in Anatolien und Kleinasien in zahlreiche Eisenbahnbauten investiert und mehrere Eisenbahngesellschaften finanziert hatte, sorgte sich bereits um eine mangelnde Vertretung ihrer Interessen im Zusammenhang mit der Umsetzung des Vertrags von Sèvres (dodis.ch/C2529). 

Folgen für die Schweiz 

Trotz seiner geringen Eigeninteressen an der Konferenz entschied der Bundesrat am 17. November den Bundespräsidenten für die Eröffnungsrede zu entsenden (dodis.ch/44876). Während der neun Monate, welche die internationale Konferenz in Lausanne andauerte, hielt sich die Schweizer Diplomatie weitgehend im Hintergrund. Zwar weckten die Fragen der Kapitulationen (dodis.ch/44884 und dodis.ch/65537) und der wirtschaftlichen Beziehungen mit der neuen Regierung in Ankara Interesse (dodis.ch/65861 und dodis.ch/44936), doch das offizielle Engagement blieb sehr bescheiden.  

Conradi-Affäre 

Schliesslich war es ein Ereignis am Rande der Konferenz, das in der Schweiz und im Ausland hohe Wellen schlug: die Conradi-Affäre. Moritz Conradi, Sohn einer emigrierten Bündner Familie, der im Russischen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki gekämpft hatte, ermordete am 10. Mai 1923 im Hotel Cécil in Lausanne den sowjetischen Diplomaten Wazlaw Worowski (dodis.ch/T1481 und E-Dossier). Das Echo des Prozesses und des Freispruchs Conradis übertraf dasjenige der Konferenz selbst bei weitem. Die ohnehin schlechten Beziehungen der Schweiz zur UdSSR waren durch die Affäre endgültig an einem Tiefpunkt angelangt. 

Unterzeichnung im Palais de Rumine 

Ein Monat nach diesem Ereignis, am 24. Juli 1923, wurde schliesslich der Vertrag im Palais de Rumine in Lausanne unterzeichnet. Indirekt führte dieser Vertrag dazu, dass die Schweiz die neue Türkei sowie Ägypten anerkannte (dodis.ch/44959), während andere postosmanische Unabhängigkeitsbestrebungen durch die Konferenz ignoriert wurden. Als später die Kemalisten die Macht in der Türkei vollständig übernahmen, suchte der gestürzte Sultan das Osmanischen Reiches Zuflucht in der Schweiz (dodis.ch/44967). 

Die Bildquellen, die diesen Artikel illustrieren, stammen aus der Ausstellung «Frontières» des Musée Historique Lausanne (MHL), die ab sofort und bis zum 8. Oktober 2023 besichtigt werden kann.