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Neue Dokumente zur Schweizer Aussenpolitik 1992

Am 6. Dezember 1992 besiegelte das Stimmvolk eine Zeitenwende in der schweizerischen Europapolitik. Der Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) erlitt Schiffbruch. «Der Bundesrat nimmt diese Entscheidung zur Kenntnis und respektiert sie», deklarierte Bundespräsident René Felber nach der Abstimmung, bedauerte aber, «dass die Schweiz auf die ihr gebotenen Möglichkeiten zur Öffnung verzichtet und damit auch mit ihrer Politik der Annäherung an Europa bricht, die seit dem Zweiten Weltkrieg politisch betrieben wurde» (dodis.ch/61182). Wie kam es zu diesem Bruch?

Die Forschungsstelle Dodis hat zahlreiche Dokumente zum Schicksalsjahr 1992 ausgewertet und eine Auswahl davon pünktlich nach Ablauf ihrer gesetzlichen Schutzfrist am 1. Januar 2023 in der Datenbank Dodis und dem neusten Band der Diplomatischen Dokumente der Schweiz veröffentlicht. «Die Akten zeigen», sagt Dodis-Direktor Sacha Zala, «dass es am Ende der Gewissheiten des Kalten Kriegs gerade die Fragen der politischen Integration waren, welche die Schweiz am meisten forderten.» 

Europapolitischer Scherbenhaufen 

Noch im Frühling entschied der Bundesrat, rasch ein Gesuch zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bei den Europäischen Gemeinschaften (EG) einzureichen. Der Beschluss war keineswegs unumstritten: Während die Vertreter der lateinischen Schweiz für ein rasches Vorpreschen plädierten, fürchteten die Bundesräte Arnold Koller und Adolf Ogi, dies könnte die Abstimmungen über den EWR und über die Neue Alpentransversale belasten. Bundesrat Kaspar Villiger betonte, dass der EWR «eine echte Chance» habe, während die Beitrittsfrage «immer noch sehr kontrovers» sei. In einer zweiten Diskussionsrunde gab Verkehrsminister Ogi seine Opposition auf und wurde damit zum Zünglein an der Waage (dodis.ch/58958). Am 20. Mai verabschiedete der Bundesrat die Beitrittsschreiben an die EG. 
Für die EWR-Abstimmung stellte sich dies als kommunikativer Hochseilakt heraus. Bekanntester und schlagkräftigster Gegner des EWR war der Zürcher SVP-Nationalrat Christoph Blocher. In der Wirtschaftskommission forderte er, bilaterale Verträge mit der EG zu «erzwingen», fand aber unter den meisten Kollegen keine Verbündeten. Pascal Couchepin, Walliser FDP-Nationalrat, warnte vor der zunehmenden Emotionalisierung der Debatte, die letztlich die Demokratie gefährde (dodis.ch/60997).  
In und ausserhalb des Parlaments wurde ein hitziger Abstimmungskampf geführt, der nach dem Entscheid am Nikolaustag für den Bundesrat in einem europapolitischen Scherbenhaufen endete. Obwohl intern bedauert wurde, dass sich nicht alle Bundesräte bei einem öffentlichen Auftritt klar für den EWR ausgesprochen hatten, galt es nun, «den Entscheid des Souveräns zu akzeptieren», die «aufgerissenen Wunden» so rasch wie möglich zu heilen, «das Land wieder zu vereinigen» und zu verhindern, dass sich Resignation verbreite (dodis.ch/60622). 

Globale Wirtschafts- und Finanzbeziehungen 

Dem omnipräsenten Fokus auf Europa versuchte die schweizerische Handelsdiplomatie auch 1992 entgegenzuwirken und zeigte sich auf globaler Ebene vernetzungsfreudig. Im Zentrum stand der bilaterale Handel mit China (dodis.ch/61393), dem aufstrebenden «Tigerstaat» Taiwan (dodis.ch/61266), oder Argentinien und Chile (dodis.ch/61447). Als wichtigstes Instrument für die Stärkung der aussereuropäischen Kontakte galt die Uruguay-Runde des GATT, dessen Verhandlungen es im Bereich der Landwirtschaft zu deblockieren galt (dodis.ch/62343).  
Was die Finanzpolitik betraf, so beschlossen Volk und Stände im Mai den Beitritt der Schweiz zu den Institutionen von Bretton Woods. Die Schweiz sollte durch einen zusätzlichen Exekutivratssitz und die Bildung einer neuen Ländergruppe Einfluss nehmen, denn «wer nicht auf Anhieb sein Ziel erreicht und einen Klappstuhl akzeptiert, gelangt nie mehr an den Tisch» (dodis.ch/62733). Mit Polen und den neuen zentralasiatischen Staaten Usbekistan, Kirgisistan, Turkmenistan und Aserbaidschan vereinte die Schweiz schliesslich genügend Gewicht und zog als Leiterin der sogenannten «Helvetistan»-Stimmrechtsgruppe in den Internationalen Währungsfonds ein. Gelegenheit Beziehungen zu den frisch unabhängig gewordenen Staaten aufzubauen, bot das WEF in Davos und eine bemerkenswerte Initiative des Bundesrats, bei dem Bundespräsident Felber die Staatsoberhäupter der GUS-Länder empfing (dodis.ch/60457). 

«Bestmögliche Kompromisse» im Umweltbereich 

Eigentliches Hauptereignis der multilateralen Zusammenarbeit war die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung. Nach aktiven Vorbereitungsarbeiten der Schweiz verhandelten Delegierte aus 178 Ländern in Rio de Janeiro Lösungsansätze für die globalen Umweltprobleme (dodis.ch/61093). Anlässlich der Unterzeichnung der Klimakonvention verkündete Umweltminister Cotti feierlich, dass die Schweiz ihre CO2-Emissionen bis zum Jahr 2000 auf dem Niveau von 1990 stabilisieren werde. Sein Abschlussbericht hielt fest, dass beim «Erdgipfel von Rio» die bestmöglichen Kompromisse erreicht worden seien (dodis.ch/61051). 
In einer grossen Kampagne bemühte sich die Schweiz im Nachgang darum, das Sekretariat der Kommission für nachhaltige Entwicklung in Genf anzusiedeln. Zwar liess UNO-Generalsekretär Boutros-Ghali bereits im April durchschimmern, dass er für den UNO-Sitz Genf anderes im Sinn hatte (dodis.ch/58969). Seine negative Entscheidung Ende Jahr traf die Schweiz dennoch unverhofft, hatte sie doch die Mehrheit der UNO-Mitgliedstaaten dazu gebracht, sich für Genf als Umweltstandort einzusetzen (dodis.ch/62551). Es war 1992 nicht die einzige schweizerische Niederlage im Standortwettbewerb: Den Zuschlag für das Sekretariat der Organisation für das Verbot chemischer Waffen erhielt Den Haag (dodis.ch/61983). Dafür glückte die Kandidatur Genfs für den Sitz des Schlichtungs- und Schiedsgerichtshofs der KSZE (dodis.ch/61464).  

Krieg und Peacekeeping 

Die KSZE selbst verschrieb sich 1992 ganz der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung, die nach dem Umbruch im sicherheitspolitischen Gefüge Europas akut gefordert war. Es ging um den Krieg im ehemaligen Jugoslawien sowie um die Auseinandersetzungen in Bergkarabach, Transnistrien und Abchasien, wo die KSZE künftig in Zusammenarbeit mit der NATO und der Westeuropäischen Union (WEU) Peacekeeping-Operationen durchführen sollte (dodis.ch/61951). Der Bundesrat präsentierte seinerseits im August einen Fahrplan, wie ab Ende 1994 ein erstes schweizerisches Blauhelmbataillon der UNO und der KSZE zur Verfügung gestellt werden könnte (dodis.ch/62528). Schweizerische UNO-Militärbeobachter waren seit 1990 im Nahen Osten stationiert, der Einsatz einer Schweizer Sanitätseinheit in der Westsahara wurde verlängert. 
In Bosnien und Herzegowina beteiligte sich die Schweiz sowohl an den KSZE-Missionen als auch an der UNO-Schutztruppe. Zusätzlich sollte humanitäre Hilfe das Leid der Kriegsopfer lindern. Gerade aufgrund der zahlreichen Arbeitskräfte aus dem ehemaligen Jugoslawien hätten die kriegerischen Ereignisse in Bosnien «eine eminent politische Bedeutung für die Schweiz». Dem Land erwachse «eine besondere moralische Verpflichtung», seine Hilfe zu verstärken (dodis.ch/60663). In diesem Sinne liess die Schweiz hunderte Kinder und schutzbedürftige Personen aus Bosnien einreisen. Gleichzeitig wurde die Rückschiebung von saisonalen Arbeitskräften aus Mazedonien und Kosovo vorläufig noch für möglich eingestuft (dodis.ch/62285). In der Asylpolitik wurde das Konzept der sogenannten «Safe Countries» nach wie vor intensiv diskutiert (dodis.ch/61255). 

Nervenzentrum der schweizerischen Neutralität 

Die veränderte europäische Sicherheitsarchitektur rüttelte schliesslich an der Essenz der schweizerischen Selbstwahrnehmung und eine Studiengruppe des Bundesrats forderte die «Neuausrichtung der Aussenpolitik hinsichtlich der Neutralität» (dodis.ch/59120). Als ein Diskussionspapier des Militärdepartements vor den Grenzen der autonomen Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee aufzeigte, warnte das EDA «das Nervenzentrum der schweizerischen Neutralität» betroffen: «Wenn die Armee des neutralen Kleinstaates Schweiz ihren militärischen Auftrag in Zukunft nur noch im Verbund mit ausländischen Streitkräften erfüllen kann, wenn Neutralität ihre Schutzwirkung verliert und zum Risiko wird», untergrabe dies ihr «Fundament» (dodis.ch/61955).  
Nach einem Austausch mit den neutralen Staaten Österreich, Schweden und Finnland (dodis.ch/61100) und der Feststellung, dass sich diese «zur Annäherung an NATO und WEU entschlossen haben», wandte sich Verteidigungsminister Kaspar Villiger direkt an Aussenminister Felber: Für die Schweiz bestehe nun Bedarf nach einem ähnlichen Schritt, denn «nur so können wir vermeiden, sicherheitspolitisch in die Isolation zu geraten» (dodis.ch/61267). 
Das negative Resultat der EWR-Abstimmung, mit dem sich das Jahr 1992 zu Ende neigte, änderte an diesem sicherheitspolitischen Integrationsinteresse der Schweiz nichts. «Es gilt abzuwarten», so Dodis-Direktor Sacha Zala, «ob sich dieser Zusammenarbeitswille 1993 konkretisiert.» Die Akten, die in einem Jahr frei zugänglich werden, werden es zeigen. 

01. 01. 2023