Jurafrage und internationale Politik

«Wir blamieren uns vor dem Ausland, das immer mehr den Eindruck erhalte, dass die Schweiz mit ihren Minderheitsproblemen nicht fertig werde», beklagte sich Paul Chaudet, der Vorsteher des Militärdepartements, an der Bundesratssitzung vom 17. März 1964 (dodis.ch/31968). Die Jurafrage beschäftigte damals die eidgenössische Politik in zunehmendem Masse. Wenige Monate später wurde Chaudet bei einem öffentlichen Auftritt in Les Rangiers von Aktivisten der Gruppe «Béliers» des separatistischen «Rassemblement jurassien» niedergeschrien. 

«Protofaschistische» Béliers

Chaudets Bundesratskollege, der Berner Friedrich Traugott Wahlen, stufte die radikale Jugendorganisation nach den Vorfällen von Les Rangiers als «protofaschistisch» ein (dodis.ch/30806). Dass er dies als Aussenminister anlässlich der Jahreskonferenz der Schweizer Botschafter tat, zeugt von der Bedeutung, die der Bundesrat der internationalen Dimension des jurassischen Separatismus zusprach. Er belastete einerseits das Verhältnis zum Nachbarland Frankreich und hatte andererseits Auswirkungen auf die Beziehungen zum Europarat sowie den möglichen Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention.

Französische Unterstützung für den «Jura libre»?

«Vive le Québec libre» hatte Charles de Gaulle anlässlich seines Staatsbesuchs im kanadischen Montreal 1967 in die Menge gerufen (dodis.ch/32706). Mit Sorge fragte sich die Schweizer Diplomatie, ob gewisse Kräfte innerhalb der französischen Regierungspartei auch den jurassischen Separatismus unterstützten (dodis.ch/32591). Der Verdacht wurde erhärtet, als im September 1968 eine Delegation der «Association féminine de la défense du Jura» im Europarat in Strassburg von zwei französischen Parlamentariern empfangen wurde. Vehement protestierte Bern am Quai d'Orsay gegen diese «Einmischung in eine interne schweizerische Angelegenheit» (dodis.ch/32600).

Angst vor «fremden Richtern»

Dem Europarat gehörte die Schweiz seit 1963 an. Ein Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention wurde heiss debattiert. Die Schweiz müsste im Falle einer Ratifikation mit vermehrten Interventionen in Strassburg rechnen, vermutete der einflussreiche Genfer Nationalrat Olivier Reverdin. An einer hochkarätigen Sitzung zur Jurafrage beschwor Reverdin, selbst Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die «fremden Richter» aus dem Bundesbrief von 1291: «Indem sie eine ausländische Einmischung in die schweizerische Innenpolitik erlauben, verletzen die Separatisten ein fundamentales Prinzip unseres Staates, das so alt ist wie die Schweiz selbst.» (dodis.ch/34196)

Geteerte Tramschienen, überrumpelte Polizei

Auch nachdem das Berner Stimmvolk 1970 den Jurassiern zugestand, in Plebisziten selbst über die Bildung eines neuen Kantons zu entscheiden, hielten radikale Machenschaften an. «Die Béliers haben sich darauf spezialisiert, mit gut vorbereiteten Blitzaktionen handstreichartig die Öffentlichkeit zu überraschen», musste die Stadtpolizei Bern 1972 eingestehen, nachdem die Separatisten aus Protest gegen den schlechten Zustand des jurassischen Strassennetzes die Tramschienen der Bundesstadt geteert hatten (dodis.ch/35494). Die Béliers beschränkten ihre effektvollen Störaktionen jedoch nicht auf die Schweiz.

Botschaftsbesetzungen in Paris und Brüssel

Am Vormittag des 13. Juli 1972 drang gut ein Dutzend Béliers in die Konsularkanzlei der Schweizer Botschaft in Paris nahe der Esplanade des Invalides ein. Sie verriegelten die Eingangstür, hängten zwei jurassische Fahnen sowie ein Transparent aus dem Fenster und hielten das Gebäude während Stunden besetzt (dodis.ch/40890). Am 3. August 1973 drangen Aktivisten zeitgleich in die belgische Botschaft in Bern sowie in die Kanzlei der Schweizer Botschaft in Brüssel ein (dodis.ch/38196). Die Aktionen verliefen jeweils glimpflich. Der Bundesrat stellte bei der Bundesanwaltschaft Strafantrag wegen Hausfriedensbruch (dodis.ch/37108 und dodis.ch/38192).

Eine «Lektion für das ganze Europa»

Vor genau 40 Jahren, am 24. September 1978, war es schliesslich soweit. 71% der Schweizer Stimmbevölkerung und alle Stände stellten sich hinter die Schaffung des Kantons Jura. Per 1. Januar 1979 traten die nordjurassischen Amtsbezirke Pruntrut, Delsberg und der Freiberge gemeinsam als jüngster Gliedstaat der Eidgenossenschaft bei. Dies war ein entscheidender Schritt zur Beilegung des jahrzehntelangen Konflikts, auch wenn die Jurafrage aktuell blieb. Die internationale Presse bezeugte ihre Achtung vor dem Volksentscheid, indem sie die Abstimmung als «Sieg für die schweizerische Eidgenossenschaft selbst und ihre Demokratie» (Figaro) oder gar als «Lektion für ganz Europa» (Le Peuple) gefeiert wurde (dodis.ch/51726).

Alle Dodis-Dokumente zur Jurafrage befinden sich unter dodis.ch/T1021.