Die Schweiz und die Russische Revolution

«Petrograd liegt vollständig in den Händen des hiesigen Sowjets», telegrafierte die schweizerische Gesandtschaft am Abend des 7. Novembers 1917 aus der russischen Hauptstadt nach Bern. «Abteilungen der Sowjet-Truppen besetzen die Stadt. Die Hauptverkehrsadern sind verbarrikadiert. Abends 10 Uhr hörte man in der Umgebung des Winterpalastes Gewehr- und Geschützfeuer.»

Geschildert wird nicht weniger als das Epochenereignis der Oktoberrevolution: «Es scheint, der Staatsstreich der Maximalisten könne als gelungen betrachtet werden», heisst es in dem Telegramm lapidar. «Es sei eine Regierung Lenin / Trotzki in Bildung begriffen» (dodis.ch/43626).

«Es wird nicht zur Revolution kommen»

Schweizerische Beobachter hatten schon seit Monaten die spannungsvolle Situation im Russischen Reich beobachtet. Erschüttert schilderte der Gesandte Édouard Odier anlässlich der Ermordung des «Wundermönchs» Grigori Rasputin im Dezember 1916 die Zerfallserscheinungen am Zarenhof (dodis.ch/43524). Dennoch gab sich Minister Odier inmitten politischer Krisen und Affären kaltblütig. «Zusammenfassend glaube ich deshalb, dass es, solange der Krieg dauert, weder zu einem dynastischen Wechsel noch zu einer sozialen Revolution kommen wird», schrieb er im Januar 1917 nach Bern (dodis.ch/43533). Alarmistischere Diplomaten verglichen die Situation dagegen mit derjenigen Frankreichs 1789 (dodis.ch/43528).

Die Februarrevolution

Dann ging es plötzlich Knall auf Fall: «Wie ich auf der französischen Botschaft erfahre, ist der Zug, mit dem der Kaiser von Mohilew nach Moskau reiste, angehalten worden und steht unter Bewachung», telegrafierte Odier am 15. März 1917 (dodis.ch/43558). Als Folge von Hungerrevolten, Demonstrationen und Streiks wurde das Zarenregime weggefegt. Nikolai II. musste abdanken, Arbeiter- und Soldatenräte sowie eine von der Duma eingesetzte Provisorische Regierung übernahmen die Macht. Ruhe kehrte damit nicht ein in Russland. «In Hinblick auf die provisorischen Verhältnisse» nahm der Bundesrat mit der neuen Regierung zwar de facto-Beziehungen auf. Von einer formellen Anerkennung nahm die Schweiz allerdings Abstand (dodis.ch/43561).

Die Affäre Grimm-Hoffmann

Im Juni 1917 erschütterte das «neutralitätswidrige Verhalten» des Schweizer Aussenministers das In- und Ausland (dodis.ch/43604). Der Sozialistenführer Robert Grimm hatte einen Aufenthalt in Petrograd genutzt, um mit regierungsnahen Kreisen einen möglichen Separatfrieden Russlands mit Deutschland zu sondieren. Unterstützt wurde er von Bundesrat Arthur Hoffmann – ohne das Wissen von dessen Regierungskollegen. Zum grossen Skandal kam es, als ein chiffriertes Telegramm Hoffmanns an Grimm (dodis.ch/43591) abgefangen wurde und an die Öffentlichkeit gelangte (dodis.ch/43593). Hoffmann gab seinen sofortigen Rücktritt aus dem Bundesrat bekannt (dodis.ch/43597). Für die Schweizer Politik war ein derartiger Abgang ein völliges Novum.

Von der Strasse an die Macht

Odier beobachtete in Petrograd den raschen Aufstieg radikaler linker Kräfte um Wladimir Lenin, der vor kurzem noch in Zürich als Emigrant gelebt hatte. «Die extrem pazifistisch-revolutionäre Partei Lenins scheint ziemlich zahlreich zu sein, und die provisorische Re­gierung wagt nichts gegen sie zu unternehmen», schrieb er von den Feiern zum Ersten Mai 1917 (dodis.ch/43580). Wenige Wochen später stürzten die Bolschewiki die Provisorische Regierung und rissen die Macht an sich. Mit ihren ersten Dekreten wurden Grund und Boden in die Verwaltung von Dorfkomitees übergeben; die Industriebetriebe wurden der Kontrolle durch die Arbeiter unterstellt.

«Ein Minimum an Beziehungen»

«Sie wissen dass die Schweizer in Russland enorme Interessen haben, die ebenfalls äusserst schweren Schaden genommen haben und es hängt allein von der maximalistischen Regierung ab, [...] gegenüber unseren Mitbürgern die Konsequenzen der von ihr verordneten schrecklichen Massnahmen etwas einzudämmen», schrieb Aussenminister Felix Calonder im Februar 1918. Tausende von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern lebten 1917, teilweise seit Generationen, in Russland. Angesichts der revolutionären Wirren waren nicht nur ihr Eigentum, sondern auch Leib und Leben bedroht. «Wir müssen uns deshalb bemühen mit dieser Regierung ein Minium an Beziehungen beizubehalten», so die Devise (dodis.ch/43663).

Revolutionäre Diplomatie

Entsprechend verfügte die Landesregierung, dass Emissäre der Sowjet-Regierung in die Schweiz einreisen durften, wenngleich von Beginn weg das Gerücht kursierte, die russischen Diplomaten wollten in der Schweiz in erster Linie einen revolutionären Umsturz anfachen  (dodis.ch/43660). Im Mai 1918 richtete sich schliesslich eine Sowjet-Mission in Bern ein, um, unter der «formellen Zusicherung sich  jeglicher sozialistischer Propaganda zu enthalten», mit dem Bundesrat de-facto-Beziehungen aufzunehmen (dodis.ch/43706). Bereits im November 1918, am Tag vor dem Ausbruch des Landesstreiks, wurden die Diplomaten jedoch wegen «Umtrieben revolutionärer Art» brüsk ausgewiesen (dodis.ch/43720).

Terror in Russland

Derweil wüteteten in Russland Bürgerkrieg und Terror. «Das Volk ist in seiner Mehrheit nicht gegen die Sowjets», hiess es in einem Bericht der Gesandtschaft in Petrograd vom Juli 1918, «das Regime begünstigt seine Trägheit, seine diebischen und ehrlosen Instinkte und ermöglicht es ihm, seinen Hass gegen alles zu stillen, was ihm an Kultur, Intelligenz oder Wohlstand überlegen ist.» (dodis.ch/43714) Gemeinsam mit dem ausländischen diplomatischen Corps überreichte Minister Edouard Odier der Sowjet-Regierung eine Protestnote gegen willkürliche «Massenverhaftungen» und «Hinrichtungen im Schnellverfahren» von Menschen, «deren einziges Verbrechen es ist zur Klasse der Bourgeoisie zu gehören» (dodis.ch/43720).

Abbruch der diplomatischen Kontakte

Im November 1918 wurde – als Reaktion auf die Ausweisung der Sowjet-Mission? – das Wertdepot der Schweizer Gesandtschaft in Petrograd von Räubern geplündert (dodis.ch/43771). Unter Protest reiste die Schweizer Gesandtschaft Anfang 1919 aus Russland ab. Nach wie vor warteten zahlreiche Russlandschweizer auf ihre Repatriierung. Ihre Interessen wurden nun von einer IKRK-Delegation wahrgenommen (dodis.ch/44156). Eine Hilfs- & Kreditorengenossenschaft für Russland sollte sich um die Rückzahlung schweizerischer Guthaben kümmern, die sich «auf hunderte von Millionen Franken» bezifferten (dodis.ch/44064). Die Frage wurde nie geklärt.

 

Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich die Beziehungen der Schweiz zu Russland normalisierten. 1923 führte die Conradi-Affäre (vgl. E-Dossier) zum vollständigen Bruch zwischen Bern und Moskau. Erst 1946 wurden zwischen der Schweiz und der UdSSR diplomatische Missionen ausgetauscht (vgl. E-Dossier).