Die Schweiz und der Europarat

Als der Europarat 1949 gegründet wurde, stand für den damaligen Aussenminister, Bundesrat Max Petitpierre, ein Beitritt der Schweiz nicht zur Debatte (dodis.ch/5020). Nach seiner Auffassung verunmöglichte die strikte Neutralitätspolitik die Beteiligung an einer «politischen» Organisation. Durch die Mitarbeit der Schweiz in den «technischen» Organen des Europarats kam es in den folgenden Jahren zu einer schrittweisen Annäherung. Ab 1961 entsandte die Bundesversammlung Beobachter nach Strassburg; 1962 unterbreitete ihr der Bundesrat einen Bericht, der eine Vollmitgliedschaft nahelegte (dodis.ch/32085).

«Eine exzellente Schule für den Dialog»
Im Januar 1963 konnte Bundespräsident Willy Spühler dem Generalsekretär des Europarats berichten, die Landesregierung sei hoch erfreut, «dass ein neues Band im Begriff ist, sich den zahlreichen Verknüpfungen, die unser Land traditionellerweise mit den anderen Staaten dieses Kontinents verbinden, hinzu zu gesellen» (dodis.ch/30487). Führende Parlamentarier sahen im Beitritt eine «Stärkung der heiklen Position der Schweiz in Europa und der Welt». Der Europarat sei «eine exzellente Schule, um mit anderen Ländern in den Dialog zu treten» (dodis.ch/30453).

«Die logische Folge unseres Beitritts»: die Unterzeichnung der EMRK
Trotz ihres Beitritts wollte die Schweiz das wichtigste Instrument des Europarats – die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) – vorerst nicht unterzeichnen. Der Bundesrat sah darin zwar einen «Akt der Solidarität und die logische Folge unseres Beitritts» (dodis.ch/33123), doch gab es noch zu viele Vorbehalte. Dies änderte sich erst mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 und der Beseitigung der konfessionellen Ausnahmeartikel 1973. Am 28. November 1974 unterzeichnete die Schweiz die EMRK  (dodis.ch/39382).

Die Schweiz vor Gericht
Mit der Unterzeichnung der Konvention konnte die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angeklagt werden. In den ersten neun Jahren wurden 293 Beschwerden gegen die Schweiz eingereicht. In drei Fällen befand das Gericht, dass die Schweiz mit ihrem Rechtsverfahren die EMRK verletzt habe (dodis.ch/66551). Aufsehenerregend war der Fall von Jutta Huber gegen die Schweiz. Die als Prostituierte arbeitende Jutta Huber wurde 1983 bei einer Polizeiaktion gegen die Hells Angels in Untersuchungshaft genommen, ohne dass der Fall von einem unabhängigen Richter geprüft worden war. Huber sah darin einen Verstoss gegen das Recht auf ein faires Verfahren, wie es in Artikel 3 der EMRK vorgesehen war, und brachte den Fall vor den EGMR. Der Gerichtshof bestätigte 1990 den Verstoss und verpflichtete die Schweiz die Verfahrenskosten zu tragen (dodis.ch/56217).

Ratifikation der Sozialcharta bis heute ausstehend
Noch weit mehr Mühe als die Unterzeichnung der EMRK bereitete der Schweiz die Ratifikation der Europäischen Sozialcharta von 1961, welche die EMRK um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ergänzt. Verhinderte zunächst der ungenügende Ausbau der Sozialversicherungen eine Signatur, übten ab 1970 verschiedene parlamentarische Vorstösse Druck auf den Bundesrat aus. Nachdem die Charta am 6. Mai 1976 unterzeichnet worden war (dodis.ch/48718), dauerte es allerdings noch bis 1983, bis der Bundesrat einen ersten Versuch zur Ratifikation unternahm (dodis.ch/65769) – erfolglos. Seine Botschaft wurde 1984 im Ständerat (dodis.ch/68883) und 1987 im Nationalrat (dodis.ch/68884) abgelehnt. Bis heute hat die Schweiz die Europäische Sozialcharta nicht ratifiziert.

Schweizer Präsidentschaft des Ministerkomitees
Dessen ungeachtet arbeitete die Schweiz seit Beginn ihrer Mitgliedschaft aktiv im Europarat mit: Zwischen 1965 und 1991 präsidierte viermal ein Vorsteher des Aussendepartements das Ministerkomitee des Europarats. 1965 sprach sich Bundesrat Wahlen für die «europäische Einheit» aus (dodis.ch/68617), Bundesrat Graber setzte 1972 den ersten Stein für den neuen Palais de l’Europe (dodis.ch/68956) und 1981 hielt Bundesrat Aubert als Vorsitzender eine gewichtige aussenpolitische Erklärung über die Entspannung zwischen Ost und West (dodis.ch/63386). Unmittelbar nach Ende des Kalten Kriegs bestand die spezielle Aufgabe der schweizerischen Präsidentschaft darin, «die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa zu integrieren» und so dem Europarat zu seiner gesamteuropäischen Berufung zu verhelfen (dodis.ch/58669). Bundespräsident Felber ermöglichte der Vorsitz im Februar 1992 ausserdem ein seltenes Treffen mit US-Präsident George Bush im Weissen Haus (dodis.ch/59917).

Schweizer Berater statt Generalsekretär
Im Dezember 1993 äusserte der jurassische Ständerat Michel Flückiger Interesse an einer Kandidatur als Generalsekretär des Europarats. Die Europaratsdelegation des Parlaments reagierte jedoch zurückhaltend und befand, «dass eine Schweizer Kandidatur nur angemeldet werden sollte, wenn eine verlässliche Aussicht auf Erfolg besteht» (dodis.ch/65289). Kurz darauf stellte Flückiger eine «immense solitude» der Schweiz fest und entschied sich gegen eine Kandidatur (dodis.ch/68059). Der neue Generalsekretär ernannte Flückiger jedoch zum persönlichen Berater in Migrationsfragen und die Schweiz beteiligte sich an den Lohnkosten des neuen Beraters (dodis.ch/67732).

Für den Beitritt der Schweiz zum Europarat siehe auch dodis.ch/W1923.