Die Nelkenrevolution aus Schweizer Sicht

«Es dauerte nur fünfzehn Stunden bis – ohne einen Schuss abzugeben – ein Regime zusammenbrach, das beinahe ein halbes Jahrhundert existiert hatte», berichtete der Schweizer Botschafter in Lissabon, Jean-Louis Pahud, nach Bern (dodis.ch/39053). Am 25. April 1974 brachte eine Gruppe von Offizieren, die ein Ende der kolonialen Kriege und der Diktatur forderten, das Salazar-Regime friedlich zu Fall. Die Ereignisse in Portugal wurden in Europa inmitten des Kalten Kriegs mit Argusaugen verfolgt. 

Offiziere gegen das Imperium und für die Demokratie 

Zum Zeitpunkt des Putsches durch die Bewegung der Streitkräfte (Movimento das Forças Armadas, MFA), führte die portugiesische Kolonialmacht, der Estado Novo, in seinen afrikanischen Kolonien an drei Fronten Krieg: in Angola, in Mosambik sowie auf den Kapverden und Guinea-Bissau. Diese bereits seit einem Jahrzehnt andauernden kolonialen Kriege schienen den portugiesischen Offizieren vor Ort unmöglich zu gewinnen. Der Sturheit der Diktatur, die ein Imperium auf dem afrikanischen Kontinent aufrechterhalten wollte, überdrüssig, schloss sich eine Gruppe von Offizieren zusammen, um das Ende der Kolonisierung, die Demokratisierung des Regimes sowie der portugiesischen Bevölkerung dienliche Wirtschaftsmassnahmen zu fordern.
Am Donnerstag, den 25. April zogen die Offiziere der MFA durch die Strassen Lissabons, um die Kontrolle über strategische Punkte der Stadt zu erlangen. Innert Kürze schloss sich ihnen eine bedeutende Menge an friedlich demonstrierenden Zivilisten an. Der Estado Novo kollabierte innert Stunden. Inmitten des Geschehens entschied sich eine Kellnerin, die Gewehrläufe der Offiziere mit roten Nelken zu schmücken und verhalf der Revolution damit unverhofft zu ihrem Namen. 

Bilaterale Beziehungen zum Estado Novo 

Aus Schweizer Sicht war Portugal zu dieser Zeit ein Verbündeter. Die zwei Staaten waren Gründungsmitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) (dodis.ch/15944) und unterhielten gute Wirtschaftsbeziehungen. Die Schweiz importierte vorwiegend portugiesischen Wein und exportierte ihrerseits Uhren nach Portugal (dodis.ch/36773). Zugleich entwickelte sich Portugal im Zuge der 1970er Jahre zu einem Rekrutierungsland für Saisonniers (dodis.ch/36575).
Dennoch belasteten die Menschenrechtsfrage sowie die Kolonialkriege die Beziehungen: Während sich die Schweiz zurückhielt, sich der Kritik des Europarats an Portugal anzuschliessen (dodis.ch/35631), konnte sie die Missbilligung der asiatischen und afrikanischen Staaten am portugiesischen Kolonialismus im Rahmen der UNO nicht gänzlich ausblenden (dodis.ch/34107). Von Jahr zu Jahr stieg der Druck stetig an, die Verbrechen der Kolonialkriege zu verurteilen (dodis.ch/35680), sodass 1971 im EDA festgehalten wurde: «Eine portugiesische Einladung [des Schweizer Botschafters in Lissabon] nach Mozambique wäre deshalb abzulehnen.» (dodis.ch/40016

Militärputsch oder Revolution? 

Für Bern lag die drängendste Frage infolge des Putschs darin, ob es sich um eine Reorganisation an der Führungsspitze des Staats unter den Fraktionen handelte oder ob der MFA die Kontrolle über die Ereignisse zu entgleiten drohte und Portugal in eine Revolution verfallen würde. Die Angst vor einer Machtergreifung durch marxistische Organisationen war im gesamten Verfassungsprozess omnipräsent – und das, obschon die Kommunistische Partei mit den anderen Beteiligten der Bewegung am verfassungsgebenden Prozess zusammenarbeitete (dodis.ch/39055). 
Zusätzlich zur politischen Krise setzte in Portugal ab Ende 1974 eine tiefgreifende Wirtschaftskrise ein (dodis.ch/39059). Angesichts der Revolutionsgefahr bereiteten westliche Staaten im Rahmen der EWG und der EFTA Massnahmen zur Wirtschaftshilfe vor, denen sich die Schweiz vorerst unter Druck des Vororts nicht anschloss, da letzterer um die Behandlung schweizerischer Unternehmen in Portugal besorgt war (dodis.ch/39060). Im September 1976 genehmigte die Bundesversammlung schliesslich die Teilnahme der Schweiz am EFTA-Industrieentwicklungsfonds für Portugal (dodis.ch/48596). 

Haltung gegenüber den ehemaligen Kolonien 

Im Sommer 1974 verkündete der Aussenminister der portugiesischen Übergangsregierung den Botschaftern westlicher Staaten in Lissabon, dass er fest entschlossen sei, das Imperium aufzulösen, eine Nichtanerkennung Guinea-Bissaus durch die betreffenden Regierungen aber als «Geste der Höflichkeit und als Rücksichtnahme gegenüber Lissabon betrachte und dafür seinen aufrichtigen Dank ausdrücke». Damit versuchte Portugal die Kontrolle über den Dekolonisierungsprozess zu behalten (dodis.ch/38885). In den folgenden 16 Monaten erlangten die drei portugiesischen Kolonien dennoch ihre Unabhängigkeit und wurden auch von der Schweiz rasch anerkannt. 

  

Dieses E-Dossier zur Nelkenrevolution ist inspiriert durch das Seminar, das Dodis am 21. November 2023 zusammen mit der portugiesischen Botschaft in Bern organisiert hat (dodis.ch/W30629), sowie durch die Publikation zweier Studien zu den bilateralen Beziehungen der Schweiz und Portugal:

  • Reto Monico, Regards suisses sur la révolution des œillets: les rapports secrets de l’Ambassade à Lisbonne (1974–1976), Lisbonne ; Genève, 2023. 
  • Sabina Widmer, Switzerland and Sub-Saharan Africa in the Cold War, 1967–1979, Leiden; Boston, 2021.