80 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa

«Kirchenglocken verkünden den Abbruch der Kriegshandlungen», begann Bundespräsident Eduard von Steiger heute vor 80 Jahren seine Radioansprache vom 8. Mai 1945: «Die unsäglichen Leiden der vom Kriege heimgesuchten Völker gehen dem Ende entgegen.» (dodis.ch/30882) In einem vertraulicheren Rahmen äusserte wenige Tage später Aussenminister Max Petitpierre vor Vertretern von Parlament und Kantonsregierungen gemischte Gefühle:  «Die durch das Ende der Kampfhandlungen hervorgerufene Freude wird von der Erkenntnis des mit systematischer Grausamkeit Millionen von Menschen zugefügten Leids gedämpft, die in die Konzentrationslager Hitler-Deutschlands deportiert wurden.» (dodis.ch/320)

Die Überlebenden der Konzentrationslager

Obwohl die Bundesbehörden seit 1942 über die Vernichtungspolitik der Nazis informiert waren (vgl. E-Dossier dodis.ch/W8), war man von ihrem Ausmass auch in der Schweiz schockiert. Das Land öffnete seine Grenzen für den Transit und die Hospitalisierung von Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern, Deportierten und Flüchtlingen (dodis.ch/1705). Kinder aus dem KZ-Buchenwald wurden zu Erholungszwecken aufgenommen – aus «moralischem Interesse» nahm Bern auch das Risiko in Kauf, «in sechs Monaten oder einem Jahr gewisse Schwierigkeiten zu haben, einige von ihnen wieder loszuwerden» (dodis.ch/13).

Krieg oder Frieden?

In seiner Rede hatte Petitpierre auch hervorgehoben, dass die Rückkehr zum Frieden noch fern liege und dass aus den sich anbahnenden Konflikten auch ein neuer Krieg entstehen könnte. Am 11. Mai 1945 hob der Bundesrat sein seit Oktober 1944 gültiges Verbot der Ausfuhr von Kriegsmaterial teilweise auf, was «für unsere Industrie eine ganz wesentliche Erleichterung » bedeute und «sich auf die Frage der Arbeitsbeschaffung günstig auswirken wird» (dodis.ch/1214). Emil Georg Bührle, der führende Waffenexporteur, vervielfachte daraufhin seine Bemühungen um die Erschliessung neuer Märkte, wobei ihn die Bundesbehörden allerdings nicht offen unterstützen konnten (dodis.ch/3681). 

Die Zukunft Deutschlands

Nach der Kapitulation Deutschlands stellte der Bundesrat fest, «dass das Reich zwar als Staat nicht verschwunden ist, aber keine Regierung mehr hat» (dodis.ch/32060). Allerdings war die Schweiz auch das einzige Land, das die Souveränität der alliierten Besatzungsmächte über Deutschland nicht anerkannte (dodis.ch/2082). Entsprechend ernannte der Bundesrat am 18. Mai 1945 einen Schweizer Diplomaten mit der treuhänderischen Vertretung deutscher Interessen in der Schweiz (dodis.ch/1218).

Konflikte mit der Sowjetunion

Mit Kriegsende traten vermehrte Konflikte zwischen den Anhängern des Kommunismus und den westlichen Demokratien auf. Die Sowjetunion, mit der Bern seit 1918 keine diplomatischen Beziehungen mehr unterhielt, kritisierte, dass die Schweiz mit den Achsenmächten bis zuletzt wirtschaftliche und finanzielle Beziehungen unterhalten habe und deren Raubgut Unterschlupf böte (dodis.ch/2353). Um Vorwürfe gegenüber der Behandlung sowjetischer Internierter zu kontern, beschloss der Bundesrat Dokumentarfilme aus den «Russenlagern» zu veröffentlichen (dodis.ch/1215). 1946 forderte die UdSSR vom Bundesrat eine Entschuldigung für dessen «antisowjetische Haltung» in der Vergangenheit. Nach anfänglicher Ablehnung gelang es dem Bundesrat einige Monate später, die Beziehungen zur neuen Supermacht zu normalisieren. Die Formel, auf die man sich schliesslich einigen konnte, lautete: «Mit seiner Einladung an die sowjetische Regierung [...] hat der Bundesrat zum Ausdruck gebracht, dass er seine bisherige Haltung, soweit sie gegenüber der UdSSR unfreundlich war, ändert.» (dodis.ch/48190, vgl. E-Dossier dodis.ch/W5953)

Finanzplatz unter Beschuss

Auch von Seiten der westlichen Alliierten mehrten sich die Vorwürfe insbesondere gegenüber dem Finanzplatz Schweiz. Die Banquiers sprachen von einem Finanzkrieg, den die US-Behörden auf Initiative der Wall Street gegen sie führten. An einer Sitzung der Banquiervereinigung mit dem Bundesrat äusserte sich etwa Generaldirektor Alfred Schaefer von der Bankgesellschaft: «Das Bankgeheimnis der anglo-amerikanischen Inquisition zu opfern» würde bedeuten, «die Existenz der Banken selbst in Frage zu stellen». Petitpierre erwiderte, die Diplomatie habe immer die Interessen der Banken vertreten und würde von dieser Linie nicht abrücken: «Trotzdem muss man die Tatsache berücksichtigen, dass das Problem der Verteidigung der Interessen der Banken sich in das allgemeine Problem der Verteidigung schweizerischer Interessen einfügt.» (dodis.ch/38) Im Washingtoner Abkommen gelang im Frühjahr 1946 ein Vergleich mit den USA (vgl. E-Dossier dodis.ch/W5959).

Entschuldigung nach 50 Jahren

Anlässlich des 50. Jahrestags des Kriegsendes in Europa trat die Vereinigte Bundesversammlung am 7. Mai 1995 zu einer ausserordentlichen Gedenkveranstaltung zusammen. In einer bemerkenswerten Rede hielt Bundespräsident Kaspar Villiger im Nationalratssaal fest: «Es steht für mich ausser Zweifel, dass wir mit unserer Politik gegenüber den verfolgten Juden Schuld auf uns geladen haben. […] Schwierige Zielkonflikte wurden auch überängstlich zu Lasten der Humanität gelöst. Mit der Einführung des sogenannten Judenstempels kam Deutschland einem Anliegen der Schweiz entgegen. Dieser Stempel wurde im Oktober 1938 von der Schweiz gebilligt. Wir haben damals im allzu eng verstandenen Landesinteresse eine falsche Wahl getroffen. Der Bundesrat bedauert das zutiefst, und er entschuldigt sich dafür, im Wissen darum, dass solches Versagen letztlich unentschuldbar ist.» (dodis.ch/70376Wenige Monate später sollte mit der aufflammenden Debatte über nachrichtenlose Vermögen von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg im Zentrum der internationalen Wahrnehmung stehen (dodis.ch/T619).