100 Jahre Locarno-Konferenz
Vom 5. bis am 16. Oktober 1925 beherbergte die Stadt Locarno eine Konferenz europäischer Aussenminister, die hier eine Reihe von Abkommen paraphierten, welche eine Annäherung der Sieger- und Verlierermächte des Ersten Weltkriegs zum Ziel hatten. Der wichtigste dieser Verträge war der Rheinpakt, in welchem Deutschland seine im Frieden von Versailles festgelegte Westgrenze anerkannte. Grossbritannien und Italien garantierten deren Unverletzlichkeit. «Beim Locarno-Pakt handelt es sich um ein grundlegendes regionales Sicherheitsabkommen, das Europa in der Nachkriegszeit bis zu Hitlers Machtergreifung stabilisierte», urteilt Dodis-Direktor Sacha Zala.
«Grösste Höflichkeit in der Diskretion»
Zu Beginn der Konferenz über die Meerengen in Lausanne im Oktober 1922 war der Bundespräsident noch gebeten worden, die Eröffnungsrede zu halten (dodis.ch/W30595). Im Falle Locarnos wurde kein entsprechendes Ersuchen gestellt, und da die Konferenzthemen «nicht unmittelbar die Interessen der Eidgenossenschaft betreffen» entschied sich der Bundesrat dafür, sich in keinerlei Weise in Locarno vertreten zu lassen, dass stattdessen «die grösste Höflichkeit in der Diskretion» liege und er entsprechend allein die notwendigen Massnahmen treffen sollte, «um die äusseren Bedingungen der Konferenz zu gewährleisten» (dodis.ch/70053).
Verantwortung für die Sicherheit
Als Gastgeberin der Konferenz war die Schweiz vornehmlich für die Sicherheit ihrer Teilnehmer verantwortlich, weshalb sich die Tessiner Polizei gründlich auf deren Ankunft vorbereitete (dodis.ch/45120). Unbedingt vermieden werden sollten auch Konflikte mit dem faschistischen Italien, da der Bundesrat hoffte, dass mit Ministerpräsident Benito Mussolini ein zentraler Akteur der europäischen Politik persönlich nach Locarno reisen würde. Noch kurz zuvor, im Sommer 1925, war es in Locarno zu einem Zwischenfall gekommen, der das Potenzial der Spannungen zwischen den beiden Nachbarstaaten offenlegte.
Konflikte mit den «Schwarzhemden»
Italienische Eisenbahnbeamte, die in ihren faschistischen Uniformen auf der Centovallibahn aushalfen, waren in Locarno in einen Wortwechsel mit Tessiner Sozialisten geraten. Der an sich harmlose Zwischenfall wurde sogar im Bundesrat diskutiert (dodis.ch/45092). Daraufhin versprach die italienische Regierung, die Einreise von «Schwarzhemden» in die Schweiz zu unterbinden. Die Schweizer Behörden sollten im Gegenzug, falls es trotzdem dazu kommen sollte, zu verhindern suchen, dass «Handlungen von Privatpersonen als antifaschistische Äusserungen interpretiert werden» könnten (dodis.ch/45102).
Den «Duce» günstig stimmen
Um den «Duce» hinsichtlich einer Teilnahme an der Konferenz günstig zu stimmen, schreckt der Bundesrat auch nicht davor zurück, die Presse zu bändigen. So wandte sich der Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements, Aussenminister Giuseppe Motta, an die Tessiner Regierung mit der Bitte, die Redaktion der sozialistischen «Libera Stampa» für ihre «unbesonnenen» Artikel über Mussolini zu rügen (dodis.ch/45119). Als Mussolini schliesslich seine Ankunft ankündigte, telegrafierte ihm Bundespräsident Jean-Marie Musy überschwänglich: «Ihre Anwesenheit in der sonnigen Stadt Locarno ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass die Internationale Konferenz das grosse Friedenswerk, zu dem sie einberufen wurde, mit Sicherheit verwirklichen wird» (dodis.ch/54269).
«Denkwürdiger Schritt auf dem steinigen Weg zu einer wahrhaftigen Sicherheit»
1975, auf dem Höhepunkt der sogenannten Entspannungspolitik im Kalten Krieg, gedachte man dem 50. Jahrestags der Abkommens von Locarno. Bundespräsident Pierre Graber, der wenige Wochen zuvor in Helsinki die Schlussakte der Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterzeichnet hatte (dodis.ch/W5721), lobte den Vertrag von 1925 in Analogie als «einen denkwürdigen Schritt auf dem steinigen Weg zu einer wahrhaftigen Sicherheit in Europa, selbst wenn sich ‹die bleiche Sonne von Locarno› wie Churchill es nannte, ja leider nach kurzer Zeit schon wieder verdunkelte» (dodis.ch/40764).
«Der ‹Geist von Locarno› brachte Hoffnung auf Verständigung und Frieden in Europa und verlieh der Weimarer Republik eine kurze Phase von Stabilität und Wohlstand – die Grundlage für das kulturelle Aufblühen der ‹Goldenen Zwanziger›», resümiert Dodis-Direktor Zala 100 Jahre später. «Mit seiner Aufnahme in den Völkerbund wurde Deutschland wieder zum Partner der internationalen Gemeinschaft, was für die schweizerische Wirtschaft von zentraler Bedeutung war. Nach dem einseitigen ‹Diktatfrieden› von Versailles bot das gemeinsam mit Deutschland geknüpfte Vertragspaket die Chance auf eine nachhaltige Nachkriegsordnung. Hitlers Machtergreifung zerschlug dann diese Chance.»