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Schweizer Aussenpolitik 1990: Der neue Band ist da!

«Die Teilung unseres Kontinents fällt der Vergangenheit anheim», verkündete der Schweizer Bundespräsident Arnold Koller anlässlich des Pariser Gipfeltreffens der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im November 1990. «Was die Völker jahrzehntelang herbeiwünschten, beginnt: eine Ära der Zusammenarbeit zwischen Ost und West, mit dem Ziel, ein neues, geeintes Europa zu errichten» (Dok. 50, dodis.ch/54685). 
Nach den epochalen Umwälzungen des Jahrs 1989 stand auch 1990 ganz im Zeichen der europäischen Wende. Der demokratische Wandel in Mittel- und Osteuropa, der Wegfall des Ost-West-Antagonismus und die Wiedervereinigung Deutschlands beflügelten die europäische Idee. Und mittendrin fand sich die Schweiz – herausgefordert von Fragen nach ihrer Neutralität, ihrer Rolle in der internationalen Gemeinschaft und ihrem Standpunkt bezüglich der europäischen Integration. Der neue Band der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (DDS) beleuchtet diese und weitere zentrale Entwicklungen in den internationalen Beziehungen der Schweiz im Jahr 1990 mit einer Selektion von Dokumenten und einer Vielzahl von Hinweisen auf weitere amtliche Quellen und Informationen in der Online-Datenbank Dodis. 

Besuche aus dem Osten 

Dass sich das «Epizentrum der westeuropäischen Politik» wohl «etwas nach Osten» verschiebe, wurde nicht nur im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten festgestellt (Dok. 43, dodis.ch/56427). Die Verlagerung spiegelte sich auch in der offiziellen Besuchspolitik: Im Februar weilte der polnische Präsident Wojciech Jaruzelski in Bern (Dok. 5, dodis.ch/ 56181), im Herbst empfing der Bundesrat den letzten DDR-Regierungschef Lothar de Maizière, (Dok. 35, dodis.ch/55552) und es kam zu Treffen mit Václav Havel, der Ikone der «Samtenen Revolution» in der Tschechoslowakei, (Dok 54, dodis.ch/55850) sowie dem sowjetischen Aussenminister Eduard Schewardnadse (Dok. 58, dodis.ch/55430). Mit einem ersten Rahmenkredit über 250 Millionen Franken unterstützte die Schweiz ausserdem die Transformationsprozesse in Osteuropa, in erster Linie in Polen und Ungarn, die im Reformkurs bereits am weitesten fortgeschritten waren (Dok. 12, dodis.ch/55680). 

Neutralität noch zeitgemäss? 

In der Frage nach der Anerkennung der Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten hielt sich die Schweiz zurück. Die Elemente zu deren Anerkennung seien noch nicht gegeben, so die vorsichtige, neutralitätspolitisch determinierte Haltung (Dok. 61, dodis.ch/54526). «Bedeutung, Wert und Sinn der Neutralität als Institut des Völkerrechts und als aussenpolitische Maxime der Schweiz» wurden allerdings zunehmend in Frage gestellt (Dok. 24, dodis.ch/54523). Verunsicherung machte sich breit, angesichts der neuen geopolitischen Lage nach dem abrupten Ende des Ost-West-Konflikts und damit dem Bedeutungsverlust der Neutralen und Nichtgebundenen, die zunehmend aus ihrer traditionellen Vermittlerrolle gedrängt wurden. Eine Unsicherheit, die sich auch auf die sicherheitspolitische Standortbestimmung der Schweiz auswirkte – auf den «Bericht 90», der insbesondere die junge, militärkritische Generation wieder ansprechen sollte (Dok. 19, dodis.ch/54937). 

Fühler ausstrecken in Richtung internationale Organisationen 

Den «Sonderfall Schweiz» generell in Frage gestellt, gewann mit dem UNO-Beitritt Liechtensteins im September 1990 «die Veränderung der Beziehungen der Schweiz zur Weltorganisation» erneut an Aktualität (Dok. 41, dodis.ch/56180). In der United Nations Transition Assistance Group leistete die Schweiz in Namibia einen grösseren Einsatz im Rahmen einer friedenserhaltenden Operation und machte damit einen fälligen «Schritt Richtung eines vermehrten weltweiten Engagements auf dem Gebiet der Friedenssicherung» (Dok. 31, dodis.ch/56036). Auch gegenüber der Bretton-Woods-Institutionen positionierte sich die Schweiz selbstbewusst und versuchte ihren Beitritt zum Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie zur Weltbank aufzugleisen: In einer «Phase der Hinwendung zu Europa dürfte die Normalisierung der Beziehungen zu den Institutionen von Bretton Woods den notwendigen und willkommenen Ausgleich schaffen sowie gleichzeitig die offene Haltung gegenüber der Welt dokumentieren» (Dok. 1, dodis.ch/54926). 

EWR oder «kolossale Isolation» 

Das Pièce de résistance der schweizerischen Aussenpolitik im Jahr 1990 waren allerdings die Verhandlungen über einen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Die Landesregierung diskutierte diverse Optionen – dass die Schweiz am Binnenmarkt unbeteiligt bleiben und die Eidgenossenschaft auf Dauer den «cavalier seul» mimen würde, schien aber ausgeschlossen. Der «Mittelweg» des EWR sahen die Bundesräte als «die einzige realistische Möglichkeit» für die Schweiz (Dok. 8, dodis.ch/54934). Man strebe eine Lösung an, «qui maintienne l’harmonie entre les spécificités suisses et la participation à l’Europe», dürfe aber von den Verhandlungen keine «solution tout à fait conforme à nos espoirs» erwarten (Dok. 23, dodis.ch/55262). Dennoch herrschte im Bundesrat gegen Jahresende eine gedrückte Stimmung in Bezug auf die Verhandlungen, die EG behandle die Schweiz «unerträglich» und die Schweiz müsse den Mut haben «nein zu sagen». Dem wurde intern entgegengehalten: «Die Alternative für die Schweiz wäre eine kolossale Isolation in einer Zeit, in der die EG eine sehr grosse Attraktivität aufweist» (Dok. 56, dodis.ch/54945). 

Golfkrise, Wirtschaftsbeziehungen und Sanktionen 

Neben dem europäischen Schauplatz stellte die angespannte Lage im Nahen Osten einen Brennpunkt der Schweizer Diplomatie dar, sei es in Bezug auf humanitäre Hilfe oder Vermittlungsdienste zwischen den Konfliktparteien etwa in Israel/Palästina oder im Libanon (Dok. 47, dodis.ch/55025). «Die zwangsweise völkerrechtswidrige Annexion Kuwaits durch den Irak» anerkannte die Schweiz im Gleichklang mit der internationalen Staatengemeinschaft nicht an (Dok. 29, dodis.ch/55715) und beteiligte sich – zum ersten Mal überhaupt – an einem Sanktionsregime der UNO. An seinen Wirtschaftsbeziehungen zum Apartheidstaat in Südafrika hielt die schweizerische Regierung allerdings fest, auch wenn Nelson Mandela Bundesrat Felber in einem Gespräch drängte, die ablehnende Haltung der Schweiz in Bezug auf die internationalen Sanktionen zu überdenken (Dok. 25, dodis.ch/54851). Auf der anderen Seite des Atlantiks standen die Reisen von Bundesrat Delamuraz und seinen Handelsdiplomaten unter dem Eindruck der neoliberalen Wende auf dem südamerikanischen Kontinent (Dok. 26, dodis.ch/56121 und Dok. 59, dodis.ch/54750). 

Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern 

Trotz der starken Fokussierung auf Hilfsaktionen zugunsten Osteuropa stellte die Schweiz die Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern der «Dritten Welt» nicht in Frage (Dok. 39, dodis.ch/56092). So verabschiedete das Parlament einen neuen Rahmenkredit für die Weiterführung der technischen Zusammenarbeit und der Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern in der Höhe von 3,3 Milliarden Franken. Dabei stellte sich allerdings immer wieder die Frage nach der Unterstützung von repressiven Regimes. Gegenüber Nepal und Ruanda pochte die Schweiz auf die Einhaltung der Menschenrechte (Dok. 14, dodis.ch/56128; Dok. 48, dodis.ch/56080). 

Die Schweiz – kein Sonderfall? 

Schliesslich sah sich das EDA selbst im Wandel begriffen: Nebst technischen Neuerungen wurde der Rahmen der internationalen Beziehungen zunehmend weiter gefasst und beinhaltete dauernd neue Tätigkeitsfelder. Gleichzeitig sah Bundesrat Felber sein Departement in der Rolle eines Vermittlers und Aufklärers gegenüber einer als ignorant empfundenen Bevölkerung: «[N]ous sommes là pour convaincre nos concitoyens que leur regard ne doit pas s’arrêter au mur d’en face ni même à la frontière de notre pays – il est trop petit.» Von der lang gehegten Vorstellung der Schweiz als «Sonderfall» gelte es sich zu verabschieden: «[L]a Suisse, État, Nation, n’est pas un ‹Sonderfall› c’est un petit morceau de la géographie du continent européen et c’est un État qui a les mêmes responsabilités que tous les autres États de ce continent et du monde» (Dok. 32, dodis.ch/54342). 

04. 01. 2021