Die Doppelkrise Suez/Ungarn 1956

Der Bundesrat geizte nicht mit grossen Worten: «Die Bedrohung eines dritten Weltkriegs und einer neuerlichen Kraftprobe mit all ihren tragischen Konsequenzen lastet auf der Menschheit», schrieb die Landesregierung vor 65 Jahren, am 6. November 1956, in einem Aufruf. «Der Friede kann allerdings und muss noch gerettet werden», appellierte sie an die Grossmächte (dodis.ch/12315). Wie bereits anlässlich der Genfer Gipfelkonferenz von 1955 wollte der Bundesrat die «Guten Dienste» der Schweiz zur Verfügung stellen, um die Regierungschefs der USA, Frankreichs, Grossbritanniens, der UdSSR und Indiens zu Friedensgesprächen an einen Tisch zu bringen.

Dramatische Tage der Doppelkrise

Dem Friedensappell waren die dramatischsten Tage der sogenannten Doppelkrise vorangegangen: Ende Oktober hatte sich ein Volksaufstand in Ungarn zu einer eigentlichen Revolution gegen das kommunistische Regime entwickelt. Die Krise im sowjetischen Machtbereich ausnutzend startete daraufhin Israel im Verbund mit Frankreich und Grossbritannien einen militärischen Angriff auf Ägypten. Die ehemaligen Kolonialmächte wollten die Kontrolle über den verstaatlichten Suezkanal zurückgewinnen, rechneten allerdings nicht mit dem grossen internationalen Protest. Am 4. November marschierten schliesslich sowjetische Truppen in Ungarn ein, um den Aufstand gewaltsam zu unterdrücken.

«Der Untergang des Abendlandes»

Die Zeitgenossen sahen sich in einer grossen Krisenzeit befangen. Bereits im September 1956 zeichnete der schweizerische Aussenminister, Bundesrat Max Petitpierre, in einer Rede vor dem diplomatischen Corps über die Nationalisierung des Suezkanals durch Ägypten ein desolates Bild des Weltlage. Der Westen zeige sich angesichts der Dynamiken der Dekolonisierung uneinig und gelähmt, die UdSSR mehre dagegen voller Selbstbewusstsein und Optimismus ihren Einfluss, insbesondere im Nahen Osten (dodis.ch/32119). Der Appell des Bundesrats erfolgte aus echter Sorge um eine möglicherweise «fatale Entwicklung» (dodis.ch/12274 und dodis.ch/11133).

UNO-Truppen fliegen Swissair

Schliesslich scheiterte die schweizerische Friedensinitiative. Stattdessen setzten die involvierten Mächte auf die Vermittlung der Vereinten Nationen. Bereitwillig beglich der Bundesrat – als «Geste [...] gegenüber der UNO und der Weltöffentlichkeit» – die Kosten für den Transport von UNO-Truppen, die ab Mitte November mit der Swissair nach Ägypten entsandt wurden (dodis.ch/11273). Als Schutzmacht hatte die Schweiz ausserdem die schwierige Aufgabe, die Interessen Frankreichs und Grossbritanniens in Kairo zu vertreten (dodis.ch/12909).

Erste autofreie Sonntage

Die Suezkrise (dodis.ch/T1241) erschütterte das Selbstverständnis des Westens. Das Erstarken nationaler Bewegungen in der arabischen Welt nährte Spekulationen über den Verlust der Stellung des britischen Pfunds und des Dollars als Leitwährungen. Die Nationalbank bereitete sich auf das Szenario vor, dass im Nahen Osten aber auch in Asien bald der Schweizerfranken für Handels- und Finanzoperationen massgeblich sein würde (dodis.ch/13075). Der Bundesrat erliess derweil Massnahmen gegen die eingeschränkte Versorgung mit Treibstoffen: Erstmals verordnete er am 16. November 1956 für vier Wochen ein Sonntagsfahrverbot (dodis.ch/40901 und dodis.ch/40903), was sich erst anlässlich des «Ölschocks» 1973 wiederholen sollte.

«Heldentum des ungarischen Volkes»

Weitaus unmittelbarer zogen die Ereignisse in Ungarn die Schweiz in ihren Bann. «Kein Schweizer, der dieses Namens würdig ist, hat nicht mit Ergriffenheit verspürt, dass das, was sich gerade ereignete, ein Angriff auf die Menschlichkeit war», drückte sich Bundesrat Petitpierre vor dem Parlament aus. «Dieses Gefühl wurde begleitet von der Bewunderung und dem gebietenden Respekt gegenüber dem Heldentum einer Bevölkerung, die alles, was sie hat, sogar ihr Leben, im ungleichen und gnadenlosen Kampf opfert und sich durch nichts von ihrem Ideal abbringen lässt. Die Schläge, die dem ungarischen Volk versetzt wurden, treffen alle freien Menschen.» (dodis.ch/12254).

Antisowjetische Proteste

Am Morgen des 20. Novembers bekundete das Land mit drei Schweigeminuten sein Mitgefühl (dodis.ch/12323). Die Welle der Solidarität mit dem ungarischen Volk ging einher mit Protesten und Feindseligkeiten gegen sowjetische Einrichtungen. Verschiedentlich wurde vom Bundesrat der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur UdSSR gefordert (dodis.ch/12319). Gleichzeitig geriet der «Osthandel» der Schweizer Wirtschaft unter vermehrte Kritik der Öffentlichkeit (dodis.ch/12320). Die Schweizer Olympia-Delegation sagte ihre Teilnahme an den Wettkämpfen in Melbourne ab, um sich nicht mit sowjetischen Athleten messen zu müssen (dodis.ch/11713).

Offene Grenzen für tausende Flüchtlinge

Private spendeten 6,5 Millionen Franken und verschickten 2 Millionen Pakete mit Medikamenten und Nahrungsmitteln an die Hilfsbedürftigen (dodis.ch/12324). Besonders manifestierte sich der «spontane Helferwille des Volkes» in der Aufnahme ungarischer Flüchtlinge, von denen rund 11'000 in die Schweiz kamen. Schon Mitte November galt die Parole:  «Die Schweiz nimmt alle auf, die kommen wollen und hat keine Auslesekriterien aufgestellt» (dodis.ch/17173). Auf Grund der sehr grossen Nachfrage der Industrie meldeten sich zahlreiche Firmen mit der Bitte um Zuweisung ungarischer Arbeitskräfte. Erklärte Linie der Behörden war es von Beginn an, «das grösst Möglichste zu tun, um für die Flüchtlinge eine menschliche Lösung zu finden» (dodis.ch/12322).