«Deutscher Herbst» in der Schweiz

Den Deutschen ging es in erster Linie darum, Normalität zu demonstrieren. Denn als im Herbst 1977 Bundespräsident Walter Scheel zum Staatsbesuch in Bern weilte, befand sich die Bundesrepublik in ihrer schwersten Krise seit Kriegsende. Die «Rote Armee Fraktion» (RAF) hatte ihre «Offensive 77» gestartet: Mit der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977 wollten die Terroristen die in Stammheim inhaftierten RAF-Kader freipressen. Es war dies der Auftakt zu dem von Angst und Tod geprägten «Deutschen Herbst».

Panzerfahrzeugpatrouillen und Verbarrikadierungen

Obschon die Regierung der BRD sich «glaubhaft bemüht, ‹business as usual› zu führen», wurde doch «das Alltagsleben mehr als bisher durch polizeiliche Sicherheitsmassnahmen (Panzerfahrzeugpatrouillen, Verbarrikadierung von öffentlichen Gebäuden und Wohnhäusern politischer Persönlichkeiten [...]) durchbrochen», schrieb der Schweizer Botschafter in Bonn im Vorfeld des Staatsbesuchs. «Diese wurden in den letzten Tagen wegen akuter Gefahr weiterer Geiselnahmen nochmals verstärkt» (dodis.ch/50277). Als Scheel zusammen mit Aussenminister Hans-Dietrich Genscher vom 22. bis 24. September in Bern weilte, sah man sich auch hier zu «für schweizerische Verhältnisse ungewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen zum Schutze der deutschen Staatsgäste» veranlasst (dodis.ch/50265).

Kampf gegen die «Dämonen der Verneinung»

Bundespräsident Kurt Furgler drückte in seiner Willkommensrede die Solidarität der Schweiz mit dem Nachbarn aus, die «Trauer und Empörung ob der ruchlosen Morde an Unschuldigen» und «herzliches Mitgefühl» mit der Familie der entführten Geisel. Der Kampf gegen die «Dämonen der Verneinung», so war Furgler sich mit den Gästen aus der BRD einig, müsse «mit den Waffen des Rechtsstaates gewonnen werden» (dodis.ch/50280). In der Presse wurde die «Menschenverachtung», «der sich auch die Terroristen des Jahres 1977 verschrieben haben», auch auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik zurückgeführt. Frank A. Meyer gab sich in der «Basler Zeitung» gewiss, die Schweiz, die keine derart belastete Vergangenheit habe, sei «nicht aus purem Zufall noch kein Terroristen-Land». Mit ihrer demokratischen Tradition sei sie ausreichend «vor politischen Perversionen» geschützt (dodis.ch/50265). 

RAF-Terror in der Schweiz?

In Wirklichkeit wappneten sich auch die schweizerischen Behörden durchaus gegen die wachsende Terrorgefahr. Der Bundesrat bemühte sich sowohl durch internationale Zusammenarbeit (dodis.ch/50253) als auch durch eine Verschärfung der nationalen Gesetzgebung (dodis.ch/50254), so etwa im Bereich des Kriegsmaterialgesetzes (dodis.ch/50293), um Abwehrmassnahmen. Die Bundesanwaltschaft informierte in einer Orientierungsschrift das Kaderpersonal der Bundesverwaltung, wie es sich gegen Anschläge schützen könne (dodis.ch/50279). «Grundsätze des Eigenschutzes» vermittelten Abwehrstrategien gegen Entführungen: «Sollte jemand versuchen, Ihren Wagen auf die Seite zu drängen», stand in einem «Kleinen Brevier für Führungskräfte», «geben Sie sofort Gas, selbst auf das Risiko hin, einen Unfall zu verursachen» (dodis.ch/50278).

Der Fall Petra Krause

Besonders zu reden gab im Herbst 1977 der Fall des seit fast drei Jahren in Zürich inhaftierten RAF-Mitglieds Petra Krause. Der deutsch-italienischen Doppelbürgerin wurde vorgeworfen, sich an Sprengstoffanschlägen in der Schweiz beteiligt sowie gemeinsam mit Zürcher Anarchisten Minen und Handgranaten aus Armeedepots gestohlen und an die RAF sowie die «Brigate Rosse» geliefert zu haben. Die Langsamkeit, mit der das Gerichtsverfahren aufgegleist wurde und die Isolationshaft, gegen die Krause mit Hungerstreiks protestierte, warfen ein schlechtes Licht auf das Zürcher Straf- und Justizsystem. In Italien lancierten linke Parlamentarier und Medien im August 1977 eine Kampagne gegen die «faschistischen» Haftbedingungen und die «Menschenrechtsverletzungen» im Fall Krause (dodis.ch/50026). Die schweizerisch-italienischen Beziehungen wurden durch die Affäre stark belastet (dodis.ch/50239).

Flugzeugentführungen von Entebbe...

Schon im Sommer 1976 hatte der Fall Krause den Bundesrat beschäftigt. Als palästinensische Terroristen ein französisches Verkehrsflugzeug nach Entebbe in Uganda entführten, forderten sie die Freilassung von insgesamt 53 Gefangenen in Israel, der BRD, Kenia und Frankreich sowie der RAF-Terroristin in der Schweiz. Beim Sonderstab in Bern fieberte man deshalb mit, als es in der Nacht auf den 4. Juli 1976 israelischen Spezialeinheiten in einer spektakulären Kommandoaktion gelang, die Geiseln zu befreien und in Sicherheit zu bringen (dodis.ch/50247). Der palästinensische Terror stellte für die Schweiz bereits seit dem Klotener Attentat 1969 (vgl. dodis.ch/T1390), der Tragödie von Würenlingen (vgl. dodis.ch/T1389) und den Flugzeugentführungen nach Zerqa 1970 (vgl. dodis.ch/T1391) eine ernsthafte Herausforderung dar.

... und Mogadiscio

Der «Deutsche Herbst» endete wiederum mit einem Akt der Luftpiraterie der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), welche dadurch die RAF in ihrem Kampf unterstützen wollte. Am 13. Oktober 1977 verkündete ein Genfer Rechtsanwalt, der als Sprecher der palästinensischen Terroristen agierte, dass die PFLP die Lufthansa-Maschine «Landshut» nach Somalia entführt hatte (dodis.ch/50251). In Mogadiscio gelang es einem Spezialkommando der BRD, die Terroristen in dem gekaperten Flugzeug zu überwältigen (dodis.ch/50252).

«Terrorismus ist keine deutsche Erfindung»

Wenige Monate nachdem die «Schreckenstage» mit der «Todesnacht von Stammheim» und der Ermordung Schleyers blutig geendet hatten, konstatierte der Schweizer Botschafter in Bonn bereits wieder ein freundlicheres Klima. Neue Terrorakte blieben vorerst aus und auch «die anfänglich befürchtete Ordnungshysterie hat[te] sich gelegt» (dodis.ch/50282). Die Schweiz blieb vor dem RAF-Terror weitgehend verschont. Dennoch führten viele seiner Spuren in die Schweiz. Die «Solothurner Zeitung» teilte die von Frank A. Meyer anlässlich von Scheels Staatsbesuch dargelegte, «etwas selbstgerechte Meinung» jedenfalls nicht: «Der internationale Terrorismus ist keine deutsche Erfindung und macht auch an der deutsch-schweizerischen Grenze nicht Halt» (dodis.ch/50265).