Die Zelebration des schweizerischen Sonderfall-Denkens im Zeichen der Neutralität verschleiert die simple Tatsache, dass auf dem internationalen Parkett «Neutralität» vielfach den Normalfall darstellte: Die meisten Staaten verhielten sich in den meisten Konflikten meistens neutral. Die Haager Konventionen von 1907 definieren bloss minimale Verpflichtungen für Neutrale. Im völkerrechtlichen Kern sind die Neutralen kaum zu mehr verpflichtet, als nicht aktiv an einem Konflikt teilzunehmen und ihr Territorium keiner Partei zur Verfügung zu stellen. Somit stellen grundsätzlich alle weiterführenden Neutralitätspraktiken ausgehend von diesem Rahmen reine politische Konstrukte dar. Im 19. und 20. Jahrhundert haben zahlreiche Staaten verschiedene Formen von Neutralitätspraktiken in ihrer Aussenpolitik betrieben. Für einige Staaten war die Neutralität gleichermassen identitätsstiftend wie für die Schweiz. Einigen wurde sie von aussen aufgezwungen, andere haben sich freiwillig dafür entschieden. Die Neutralität wurde vielerorts als politisch vorteilshaft eingestuft, teils versagte aber die erwartete Schutzschildfunktion völlig oder stellte gar ein sicherheitspolitisches Risiko dar. Die Neutralität durchlief im 20. Jahrhundert verschiedene Konjunkturzyklen und wurde von vielen Staaten situativ und höchst flexibel ausgelegt. Ein internationaler Vergleich der Neutralitätshandhabung und der Neutralitätspraktiken erlaubt es, die Konstruktion der schweizerischen Neutralität differenzierter zu reflektieren und auf Brüche und Konstanten der schweizerischen Aussenpolitik hinzuweisen.
Die Lehrveranstaltung richtet sich an fortgeschrittene Studierende, die sich für die Geschichte der internationalen Beziehungen und der Aussenbeziehungen der Schweiz interessieren und in diesem Bereich sehr intensive Literaturanalysen und aufwändige Quellenarbeit in unterschiedlichen Sprachen durchführen möchten. Sie eignet sich daher insbesondere auch für Studierende, die eine Qualifikationsarbeit in Angriff zu nehmen beabsichtigen. Ausgehend von verschiedenen thematischen Ansätzen sollen unterschiedliche Typen von Neutralitätspraktiken eingehend untersucht und miteinander verglichen werden. Von den Teilnehmenden wird erwartet, dass sie selbstständig zu einem bestimmten Thema auch fremdsprachige Literatur und Quellen suchen, analysieren und quellenkritisch diskutieren können.