Der Zollvertrag mit Liechtenstein

Vor genau 100 Jahren besiegelte der kleinste Nachbarstaat der Schweiz sein Schicksal: Eingeklemmt zwischen der Eidgenossenschaft und Österreich wandte sich das Fürstentum Liechtenstein ersterer zu und unterzeichnete am 29. März 1923 den Zollanschlussvertrag mit der Schweiz. «Dieser legte den Grundstein zu den engen Beziehungen, welche die beiden Staaten bis heute pflegen», sagt Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Dodis. 

Ablösung von Österreich 

Seine Wurzeln hat der Vertrag im Zerfall Österreich-Ungarns bei Ende des Ersten Weltkriegs. Der Niedergang des Habsburgerreichs markierte auch das Ende der Zollunion zwischen der Doppelmonarchie und dem Fürstentum Liechtenstein. Im Zuge einer Neuausrichtung nach Westen teilte Prinz Karl von Liechtenstein der Schweiz bereits im Mai 1919 seine Absicht mit: «Zusehen, dass das Fürstentum mit der Eidgenossenschaft jene Vereinbarungen eingeht, die es bisher mit Österreich verband (Zoll, Post usw.).» Des Weiteren erhoffte er sich in einem ersten Schritt die Akkreditierung eines diplomatischen Gesandten in Bern sowie die Vertretung des Fürstentums durch die Schweiz gegenüber dem Ausland (dodis.ch/44151).  

Ein Schweizer als liechtensteinischer Vertreter in Bern? 

Prinz Karl schlug ausgerechnet den Berner Emil Beck als liechtensteinischen Geschäftsträger in Bern vor, was die Schweizer Behörden vor die heikle Frage stellte: «Können wir einen diplomatischen Vertreter akzeptieren, der unser Staatsbürger ist?» Präzedenzfälle existierten allerdings bereits, etwa mit Guatemala (dodis.ch/44154). Der Bundesrat beauftragte ausserdem die schweizerischen Gesandtschaften in Rom, Paris, London und Berlin bei den jeweiligen Regierungen zu sondieren, was diese von einer diplomatischen Vertretung Liechtensteins durch die Schweiz hielten (dodis.ch/44323). Im November 1919 lag der Entscheid vor: «Alle Antworten waren positiv» (dodis.ch/44357). 

Offene Vorarlberg-Frage 

Bei der Ausgestaltung des Zollvertrages zögerte die Schweiz – zumindest solange noch nicht entschieden war, ob sich das benachbarte Vorarlberg der Schweiz anschliessen wollte. «Eine Zollunion mit dem Fürstentum Liechtenstein [ist] nur denkbar, wenn auch das Vorarlberg an die Schweiz angeschlossen würde», schrieb der Schweizer Zolldirektor im Mai 1919 an Bundespräsident Calonder (dodis.ch/44194). Für internationale Beobachter war dagegen klar: «Wenn Vorarlberg Teil der Republik Österreich bleibt, hindert Liechtenstein nichts daran seine vorherige Position beizubehalten. Es bliebe ein souveräner Staat.» Denn falls das Vorarlberg zur Schweiz fallen würde, würde das Fürstentum in eine vergleichbare Abhängigkeit getrieben, wie sie etwa für San Marino gegenüber Italien bestand: «Liechtenstein würde offensichtlich aufhören, irgendwelchen unabhängigen Verkehr mit anderen Staaten zu pflegen.» (dodis.ch/55495) Der schweizerische Gesandte in Wien bewertete die Situation ähnlich: «Wenn das Vorarlberg schweizerisch wird, dann wird es Liechtenstein sicher auch.» (dodis.ch/44167

«Eine reine Ermessensfrage» 

Nachdem sich die Frage um Vorarlberg nach dessen Entscheid für Österreich erübrigt hatte, begannen mit dem neuen Postvertrag zwischen dem Fürstentum und der Schweiz von 1921 die Verhandlungen an Fahrt aufzunehmen. Das Finanz- und Zolldepartement sprach sich in einem Bericht für die Aufnahme von Verhandlungen aus: Die «geographischen Vorbedingungen» seien erfüllt und die «Gleichartigkeit der Bevölkerung […] in Sitten und Gewohnheiten» gegeben (dodis.ch/44700). Der Bundesrat gab sich zwar eher verhalten: Für die Schweiz bringe der Zollanschluss «weder bedeutende Vorteile, noch werde er nennenswerte Nachteile zur Folge haben. Es sei daher eine reine Ermessensfrage, ob die Schweiz dem kleinen Land den Dienst erweisen wolle.» Auf jeden Fall gelte es aber, Jahre nach der ersten liechtensteinischen Anfrage «einmal zu der Frage Stellung zu nehmen» (dodis.ch/44800). Schliesslich konnte am 29. März 1923 der Vertrag zwischen der Schweiz und Liechtenstein zum Zollanschluss dann doch feierlich unterzeichnet werden. (dodis.ch/63042

Enge Beziehungen auf dem Prüfstand 

Die Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein wurden in der Folge immer wieder auf den Prüfstand gestellt. Etwa in der sogenannten «Märzkrise» 1938, als deutsche Truppen Österreich besetzten (dodis.ch/46503), oder hinsichtlich der Tatsache, dass liechtensteinische Erzeugnisse immer wieder als «schweizerisch» bezeichnet wurden (dodis.ch/62590). Um den grenznahen Waffenplatz in St. Luzisteig kam es regelmässig zu Streitigkeiten (dodis.ch/62584) – die irrtümliche schweizerische Beschiessung Liechtensteins führte 1968 gar zu «antiimperialistischen Kundgebungen» in den USA (dodis.ch/36177). Zu politischen Komplikationen führten schliesslich auch die Finanz- und Bankenskandale der 1970er Jahre (dodis.ch/62577) und nicht zuletzt die zunehmende aussenpolitische Emanzipation des Fürstentums: Bereits 1990 trat Liechtenstein der UNO bei (dodis.ch/C1854) und während die Schweiz den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum im Dezember 1992 knapp ablehnte, entschied sich das liechtensteinische Stimmvolk nur wenige Tage später dafür (dodis.ch/C2487). 

«Enge nachbarschaftliche Verflechtung» 

«Gleichzeitig boten aber genau diese Krisen wiederum die Gelegenheit, das besondere Verhältnis weiter zu vertiefen», betont Sacha Zala. Die «Märzkrise» führte zur Ausdehnung der fremdenpolizeilichen Vorschriften der Schweiz auf Liechtenstein (dodis.ch/47170), 1954 wurde ein Abkommen zur AHV unterzeichnet (dodis.ch/10605), im Bereich des Sports wurde enger zusammengearbeitet (dodis.ch/60472) und 1980 schlossen die beiden Nachbarn einen neuen Währungsvertrag ab (dodis.ch/62564). «Der Zollvertrag von 1923», resümiert Zala, «legte den Grundstein für diese nunmehr hundertjährige, enge nachbarschaftliche Verflechtung.»