Das Freihandelsabkommen mit der EWG

Für die Redaktion der «Weltwoche» war es 1972 «ein Markstein in der Geschichte», der von seiner Bedeutung in einer Reihe stand mit dem Bundesbrief von 1291, der Schlacht von Marignano, dem Westfälischen Frieden, dem Wiener Kongress und der Gründung des Bundesstaats von 1848 (dodis.ch/36211). Was das Zürcher Wochenblatt druckfrisch gleich in die Ruhmeshalle der Schweizergeschichte beförderte, war das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), das Bundesrat Ernst Brugger vor 50 Jahren, am 22. Juli 1972, für die Schweiz in Brüssel unterzeichnete. Dieses stelle «einen entscheidenden Schritt in unserem traditionellen Bemühen dar, an der Integration unseres Kontinents mitzuarbeiten, soweit wir hierzu unter Wahrung der direkten Demokratie, der parlamentarischen Befugnisse und der neutralen Aussenpolitik in der Lage sind», unterstrich Brugger in seiner Rede (dodis.ch/36209).

«Besondere Beziehungen» der EWG zu den «Nicht-Kandidaten»

«Als Frankreich 1969 sein Veto gegen eine Mitgliedschaft Grossbritanniens aufgab, war der Weg für eine erste Erweiterung der EWG frei», sagt Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Dodis. Parallel zu den Beitrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich sowie mit Dänemark, Irland und Norwegen führte Brüssel Verhandlungen «zur Herstellung besonderer Beziehungen» mit den «Nicht-Kandidaten», den EFTA-Staaten Finnland, Island, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz (dodis.ch/36161). Eine wirtschaftliche Aufsplitterung Westeuropas war zu vermeiden, doch wie weit die Teilhabe dieser Staaten am europäischen Integrationsprojekt gehen sollte, war beim Auftakt der explorativen Gespräche noch offen. Der «Fächer der Lösungsmöglichkeiten mit der EWG» reichte für die Schweizer Verhandlungsführer von einer «beitrittsnahen Lösung» bis zu einem «gewöhnlichen Handelsvertrag» (dodis.ch/36157).

Institutionelle Mitwirkung der Schweiz?

In seiner Eröffnungserklärung vom November 1970 in Brüssel betonte Bundesrat Brugger den bereits «hohen Grad der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen der Schweiz und der EWG» insbesondere beim Warenaustausch, wo die 75% der schweizerischen Einfuhren und 60% der Exporte «von keinem anderen Drittstaat erreicht» würden (dodis.ch/36161). Bruggers Chef-Unterhändler, der Direktor der Handelsabteilung des Volkswirtschaftsdepartements Paul Jolles, wusste, dass sowohl die Schweiz wie die Europäische Gemeinschaft (EG) Neuland betraten. «Die Abklärung geeigneter, neuartiger Modalitäten für die Zusammenarbeit erfordert schöpferische Phantasie und entsprechend Zeit», fasste Botschafter Jolles eine Aufgabe in Worten, die auch 50 Jahre später noch einer Lösung harren sollte: «Das schwierigste Problem wird zweifellos die Gestaltung der institutionellen Mitwirkung der Schweiz im Integrationsprozess sein.» (dodis.ch/35774)

Die Resultate des Abkommens

Eine umfassende institutionelle Lösung kam schliesslich nicht zu Stande. Bundesrat Brugger unterzeichnete am 22. Juli 1972 ein Abkommen, bei welchem «keinerlei Teilnahme an der politischen Integration Europas vorgesehen» war. Dafür befreite das Vertragswerk über 90% der schweizerischen Ausfuhren in die EWG, insbesondere Industrieerzeugnisse, von bestehenden Zöllen und legte Wettbewerbsregeln fest (dodis.ch/36210). Eine Vorbedingung der EWG war die «Regelung des delikaten ‹Swiss made›-Problems» gewesen, das zwei Tage zuvor im Abkommen betreffend die Erzeugnisse der Uhrenindustrie unter Dach und Fach gebracht werden konnte (dodis.ch/35586). Zwar blieb eine «Regelung der Probleme der zweiten Generation (zum Beispiel Währungspolitik, Energiepolitik, Umweltpolitik, Verkehrspolitik)» aussen vor, wie Verhandlungsführer Jolles resümierte. Dennoch konnte mit der EWG erstmals «ein dauerndes Verhältnis mit Konsultationsmöglichkeiten hergestellt werden» (dodis.ch/34608).

«Irreversible Entwicklung in Richtung Europa»

Die Schweiz hatte in den Verhandlungen intensiv mit dem Argument einer drohenden Ablehnung bei der Volksabstimmung operiert und so Druck auf die EWG aufgebaut. Doch nicht nur, um nach aussen das Gesicht zu wahren, unterstellte der Bundesrat das Freihandelsabkommen schliesslich dem obligatorischen Referendum. «Es wird mit diesem Vertrag auch unsere europäische Zusammenarbeit auf weite Sicht gefestigt», so Wirtschaftsminister Bruggers Plädoyer vor dem Bundesrat, «und wir verbinden uns wirtschaftlich – wenn auch ‹nur› über einen Freihandelsvertrag – doch fest mit einer Gemeinschaft von über 300 Mio. Einwohnern». Von einer Kündigung des Abkommens könne die Schweiz «aus praktischen Gründen wohl kaum je Gebrauch machen». Innenminister Hans-Peter Tschudi doppelte nach, «dass der Vertrag mit der EWG eine Entwicklung unseres Landes in Richtung Europa einleitet, die weitgehend irreversibel ist». (dodis.ch/35778)

Volksrechte und Aussenpolitik

Die Abstimmung über das Freihandelsabkommen war auch Auftakt für die geplante Ausweitung der Volksrechte im Rahmen einer Neuordnung des Staatsvertragsreferendums. In zunehmendem Masse waren aussenpolitische Beschlüsse auf die Zustimmung des Souveräns angewiesen. Der Bundesrat hatte deshalb bereits bei Verhandlungsbeginn beschlossen, mit einer verstärkten Kommunikationspolitik «bei der breiten Masse ein Klima des Interesses, der Offenheit und des Verständnisses für die grossen Probleme, die das Schicksal unseres Landes betreffen» zu schaffen – «nicht als Propaganda, sondern im Grunde als didaktisches Werk» (dodis.ch/35368). Pikant ist aber in diesem Zusammenhang eine Notiz des für die Beziehungen zu Brüssel massgeblichen Integrationsbüros mit dem Titel «Was man in der Aufklärung des Volkes über das Abkommen Schweiz-EWG nicht sagen soll» (dodis.ch/36230).

Schliesslich hiessen Volk und Stände das Freihandelsabkommen am 3. Dezember 1972 mit 72,5% Ja-Stimmen gut. «Seither erhielt die Europapolitik des Bundesrats nie mehr eine derart breite Legitimationsbasis», resümiert Dodis-Direktor Zala. «Eine weitergehende Integration der Schweiz verhinderte das Volk bei der Abstimmung über den EWR-Vertrag im Dezember 1992.»