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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 23, doc. 167
volume linkZürich/Locarno/Genève 2011
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E#1978/84#2322* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)1978/84 580 | |
Dossier title | Beziehungen zur Schweiz (1961–1967) | |
File reference archive | B.15.21 • Additional component: China |
dodis.ch/30917 Persönlicher Situationsbericht aus Peking
Schon während des ersten Halbjahres spitzten sich unsere Beziehungen zu Peking zu2. Es ist müssig, im Nachhinein untersuchen zu wollen, welcher der beiden Partner mehr «Schuld» auf sich geladen hat. Jedenfalls aber hat Bern seither wiederholt seine Bereitschaft zu weiterer sachlicher Zusammenarbeit im Rahmen des Möglichen bekundet. Ich erinnere vor allem an das Angebot von Herrn alt-Bundesrat Petitpierre, im Einvernehmen mit Ihnen der seiner zeit an ihn ergangenen Einladung3 zum Besuch Pekings Folge zu leisten4. Kurz nachdem dieses Angebot in Bern erfolgt war, machte ich dem chinesischen Geschäftsträger in Bern5 im Auftrag des Eidg. Politischen Departementes einen Höflichkeitsbesuch und kam auch auf die Reise Petitpierres zu sprechen, konnte aber nur erfahren, dass unsere Offerte nach Peking weitergeleitet worden sei. Auch sonst verlief der Besuch, verglichen mit früheren, die ich auf der Botschaft in Bern gemacht hatte, frostig, um nichts anderes zu sagen.
Das Eidg. Politische Departement hat mich dann beauftragt, nochmals auf den Posten zurückzukehren, obwohl wir nach der Lage der Dinge und angesichts meiner bereits zurückgelegten 3½ Jahre in Peking auch hätten darauf verzichten können. In Peking traf ich indessen am 7. September eine geradezu katastrophale Lage an6.
Trotz der Demütigung, Ausraubung und Ausweisung einer hier in Ehren ergrauten schweizerischen Lehrschwester7, trotz der unverschämten und grotesken Reaktion der Chinesen auf das prächtige Chinabuch unseres Meis - terphotographen Emil Schulthess8, trotz dauernder Belästigungen und Schikanen, trotz Drohungen und Gefahren, denen unser Bundespersonal hier stets ausgesetzt ist, trotz all dem haben meine Mitarbeiter und ich es selbstverständlich nie an Verständnis für die Schwierigkeiten der Chinesen und an Beweisen guten Willens zu vernünftiger Zusammenarbeit im Rahmen des Zumutbaren fehlen lassen. Gegenüber den Chinesen machte ich (freilich oft zähneknirschend) weiterhin gute Miene zum bösen Spiel. Leider fand ich aber damit hier ebensowenig Gegenliebe wie das Eidg. Politische Departement in Bern.
Meine Sondierungen hinsichtlich des Besuches Petitpierres blieben unbeantwortet. Meine Warnung vor der Schändung schweizerischer Gräber wurde vom Aussenministerium in einer für unsere Toten, aber auch für mich beleidigenden Art und Weise bagatellisiert.
Nicht besser erging es mir mit meiner Intervention gegen die beim Eingang zur Botschaft von der Roten Garde angebrachten ausländerfeindlichen Slogans, die nach wie vor jedem, der an der Botschaft vorbeigeht (wir wohnen in einem dichtbesiedelten Quartier des Stadtzentrums nahe bei einem Befehlspunkt der Roten Garde), in die Augen springen. Angeblich will es «die Masse» so haben, aber an diese kann ich mich ja nicht wenden9.
Sogar dort, wo das nüchterne Interesse den Chinesen eine vernünftigere Haltung vorschreiben sollte, weht mir hier ein eisiger Wind entgegen. Im Einvernehmen mit hiesigen Instanzen hat unserer Fédération Horlogère ein Programm zur beruflichen Fortbildung einiger chinesischer Uhrentechniker ausgearbeitet, das eine grosszügige Geste der schweizerischen Privatwirtschaft darstellt und den Chinesen grosse, dauernde Vorteile bieten, und anderseits auch unseren Interessen dienen würde10. Dieses Programm habe ich während meiner Ferien mit der Fédération Horlogère nochmals erörtert und einen schriftlichen Vorschlag der Fédération Horlogère dieser Tage hier dem Leiter der zuständigen chinesischen Behörde unterbreitet. Die Antwort war formell korrekt, aber inhaltlich negativ. Mir wurde bedeutet, wie unwichtig all das sei im Vergleich zu den weltgeschichtlichen Errungenschaften der Kulturrevolution im Zeichen Maos11. Ich kam mir wie ein abgewiesener Bittsteller vor und vermute, es werde kaum zur Verwirklichung des mit grosser Mühe ausgearbeiteten Programmes kommen, auch wenn die Chinesen mir hier versicherten, es würden auch weiterhin Uhren aus unserem Lande gekauft werden, was bisher zutraf, sich aber ändern kann, wenn die Rote Garde plötzlich anderer Meinung ist.
Auf Wunsch Pekings habe ich kürzlich ein Gesuch um Schweizer Visa für zwölf chinesische Techniker und Facharbeiter unterstützt, die in der Maschinenfabrik Mikron Biel einige Wochen ein technisches Training an Spezialmaschinen absolvieren sollen, gemäss Abmachung dieser Firma mit hiesigen Stellen, und im Zusammenhang mit neuen Aufträgen an unser Unternehmen. Bern hat die Visa rasch erteilt, die Chinesen haben ihre Pässe vidiert abgeholt, aber sind nicht abgereist. Wie in solchen Fällen hier üblich, lud ich die Gruppe samt ihren Führern und Begleitern vor der Abreise noch kurz auf die Botschaft ein, auch um dem Eidg. Politischen Departement noch meinen persönlichen Eindruck vom ersten Kontakt mit diesen offenbar gut ausgewählten Leuten melden zu können. Auf diese Geste erhielt ich vorerst überhaupt keine Antwort. Ich musste rückfragen lassen, ob ich die Eingeladenen erwarten dürfe, und erfuhr lediglich, die Abreise sei verschoben worden auf einen Zeitpunkt, der mir nicht bekannt gegeben werden könne. Seither warte ich nun zwei Wochen lang resultatlos auf weiteren Bericht und weiss nicht einmal, ob die Leute hinter meinem Rücken doch abreisten. Jegliches Wort des Dankes oder der Anerkennung für meine gutgemeinte Einladung ist bisher ausgeblieben. Ich habe durch unsern (chinesischen) Dolmetscher12 meiner Überraschung über dieses unhöfliche Verhalten Ausdruck geben lassen, weiss aber nicht, ob der Dolmetscher den Mut aufbrachte, sich deutlich auszudrücken.
Obschon von unserer Seite also manches getan wird, um den Warenaustausch aufrechtzuerhalten und zu fördern, und obschon die Statistik bisher noch keine ungünstigen Auswirkungen auf unsern Handelsverkehr mit China erkennen lässt, muss man doch mit der Möglichkeit einer Rückbildung des Handelsvolumens rechnen.
Die Chinesen werden noch mehr als bisher darauf ausgehen, nur das bei uns zu kaufen, was sie am vorteilhaftesten aus der Schweiz beziehen können. Die Schweiz steht umgekehrt sämtlichen chinesischen Exportwaren ohne Importhindernisse offen, als m. W. einziges Land der Welt.
Auch unser Generalsekretär, Herr Botschafter Micheli, hat anlässlich des Antrittsbesuches des neuen chinesischen Geschäftsträgers13 feststellen müssen, wie wenig Aussichten für eine gedeihliche Weiterentwicklung unserer Beziehungen zu Peking bestehen14. Dass bei diesem Anlass der Chinese nicht von sich aus auf die Frage der Chinareise von Herrn alt-Bundesrat Petitpierre zu sprechen kam, war unhöflich, und gleichzeitig ein Wink, wie unerwünscht dieser Besuch hier momentan wäre. Wo ich nur hinsehe, ich kann also mit dem besten Willen nichts entdecken, was neuen Mut verleihen oder auch nur bescheidene Möglichkeiten für eine Normalisierung bieten könnte. Wir befinden uns allerdings in guter Gesellschaft, denn allen anderen Botschaften geht es mehr oder weniger gleich. Sogar die gezwungenermassen engsten «Freunde» Chinas, die Albaner, befinden sich im gleichen Boot, müssen doch ihre 500 hier befindlichen Studenten China ebenso verlassen wie diejenigen aus anderen Ländern. Es bleibt uns also nur übrig zu hoffen, der gegenwärtige Sturm über China werde sich eines Tages wieder legen, wie soviele andere, die seit Jahrtausenden über China hergefallen sind. Aber das wird Zeit benötigen, denn die Rote Garde hat ihr verhängnisvolles Spiel erst angefangen und dürfte noch lange nicht alle Karten ausgespielt haben. Das ist auch die Auffassung meiner besten, glücklicherweise immer noch «funktionierenden» chinesischen Gewährsleute.
Es gibt ausländische Beobachter hier, die fürchten, wir stünden erst am Anfang der Überraschungen und könnten in absehbarer Zeit noch drama tische Dinge erleben. Sie erblicken in der Gefangensetzung des holländischen Geschäftsträgers in Peking15 ein ominöses Vorzeichen und weisen auf be drohliche Präzedenzfälle der chinesischen Geschichte hin. Hoffentlich sehen sie zu schwarz. Leider ist das Verhalten der hier vertretenen ausländischen Regierungen aber nicht dazu angetan, bei den Chinesen den Eindruck zu erwecken, der allein etwas ausrichten könnte, nämlich denjenigen einmütiger und solidarischer Entschlossenheit zum energischen Widerstand solange es noch Zeit ist.
Ich bedaure tief, einen so ungünstigen Bericht zu erstatten. Es ist jedoch meine Pflicht, ohne jede Beschönigung festzuhalten, wie die Lage gegenwärtig hier aussieht, und wie sie insbesonders vom schweizerischen Standpunkt aus zu beurteilen ist. Wir sind offenbar an einem Tiefpunkt unserer Beziehungen zu China16 angelangt und müssen mit einer weiteren Verschlechterung rechnen, auch wenn wir uns weiter bemühen, zu retten was zu retten ist. Meine Geduld nähert sich dem Ende.
- 1
- Bericht: E 2001(E) 1978/84 Bd. 580 (B.15.21). Visiert von P. Micheli, A. Janner und W. Spühler.↩
- 2
- Zur Affäre um die Verweigerung des Agréments für Li Chu-sheng vgl. das Schreiben von A. Janner an S. Marcuard vom 14. Juli 1966, dodis.ch/30958 und das BR-Verhandlungs prot. der 13. Sitzung vom 25. Februar 1966, E 1003(-) 1994/26 Bd. 4, S. 5–6. Zur Spionage ange legenheit und Ausweisung von Kuo Yu-shou und Sze Tsung-sing sowie zur Erklärung von Wang Erh-kang zur Persona non grata vgl. die Notiz des Politischen Departements vom 21. März 1966, dodis.ch/30959. Die Spionageaffäre um Kuo Yu-shou wurde ebenfalls im Bundesrat besprochen, vgl. das BR-Verhandlungsprot. der 19. Sitzung vom 21. März 1966, E 1003(-) 1994/26 Bd. 4, S. 1–3.↩
- 3
- M. Petitpierre wurde 1954 von Zhou Enlai und 1961 von Chen Yi nach China eingeladen. Li Ching-chuan wiederholte diese Einladung in der Folge mehrmals. Vgl. hierzu das Schreiben von P. Micheli an M. Petitpierre vom 7. August 1965, E 2806 1971/57 Bd. 7 (17-20). Zum Besuch von Zhou Enlai bei M. Petitpierre anlässlich der Genfer Asienkonferenz von 1954 vgl. DDS, Bd. 19, Dok. 110, dodis.ch/8175. Zu Chen Yis Besuch in Bern vgl. E 7001(C) 1975/32 Bd. 1 (004.21).↩
- 4
- Vgl. hierzu die Notiz von A. Janner vom 25. Juli 1966, dodis.ch/31137 und die Notiz von P. Micheli an W. Spühler vom 22. Juli 1966, E 2807(-) 1974/12 Bd. 55 (09). Alt Bundesräte wurden für diverse aussenpolitische Missionen eingesetzt. Für die Aktivitäten von M. Petitpierre für die Auslandschweizer vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 106, dodis.ch/31336. Für die Reise von F. T. Wahlen nach Kanada vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 170, dodis.ch/31304. Für die Rede von F. T. Wahlen am Swiss Center in New York vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 157, dodis.ch/30940. Für eine allfällige Hanoi-Reise von M. Petitpierre vgl. die Notiz von B. Dumont an W. Spühler vom 15. Februar 1966, dodis.ch/31038, S. 2. Für das Mandat von F. T. Wahlen bei der FAO vgl. die Notiz von E. Thalmann vom 29. April 1966, dodis.ch/31656. Zur Entsendung von M. Petitpierre an die Trauerfeierlichkeiten für A. Schärf vgl. das Schreiben von A. Escher an F. T. Wahlen vom 9. März 1965, E 2001(E) 1978/84 Bd. 532 (B.15.81).↩
- 6
- Zu H. Kellers traurige [r]Rückkehr nach Peking vgl. dessen Politischen Bericht Nr. 24 vom 16. September 1966, dodis.ch/30920.↩
- 7
- I. S. Muggler. Vgl. hierzu auch Doss. E 2200.174(-) 1983/84 Bd. 1 (132.5).↩
- 8
- Vgl. dazu das Telegramm Nr. 59 der schweizerischen Botschaft in Peking an das Politische Departement vom 5. September 1966, dodis.ch/30921.↩
- 9
- Zur Vorsprache von H. Keller bei Tang Hai-kuang betreffend den Besuch M. Petitpierres, die Profanierung von Ausländergräbern und die fremdenfeindlichen Slogans vor der Botschaft vgl. die Notiz von H. Keller vom 19. September 1966, dodis.ch/30918.↩
- 10
- Vgl. dazu den Bericht der Mission der Fédération Horlogère in China vom November 1965, E 2200.174(-) 1983/64 Bd. 8 (551.3), S. 25.↩
- 12
- Zu dieser Zeit waren P. Song und Fu Kuang-chung als Übersetzer (Hilfspersonal) auf der Botschaft eingestellt.↩
- 13
- Wu Hua-yuan.↩
- 14
- Vgl. die Notiz von P. Micheli an W. Spühler vom 27. September 1966, Doss. wie Anm. 1.↩
- 15
- G. J. Jongejans.↩
- 16
- Zu anderen Einschätzungen vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 175, dodis.ch/30922 und das Schreiben von H. Keller an P. Micheli vom 24. Oktober 1966, dodis.ch/30919.↩
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