dodis.ch/56631Artikel des schweizerischen Botschafters in Bonn, Hohl, für die EDA-Zeitschrift «Die Schweiz und die Welt»1

Eine würdige und disziplinierte Revolution. Das vereinigte Deutschland verdient Vertrauen

Für die einen gibt es nichts Natürlicheres als die Wiedervereinigung Deutschlands. Andere zögern noch mit ihrer Meinung und warten ab. Sie können aber nicht verhindern, dass bei unserem Nachbar am vergangenen 2. Oktober eine neue Ära eingesetzt hat.2 Für uns Schweizer wäre zum heutigen Zeitpunkt Angst vor der grösseren Macht im Norden fehl am Platz.3

Die deutsche Wiedervereinigung ist im Grunde genommen ein völlig natürlicher, unter anderem auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland antizipierter Vorgang. Sie überraschte dann doch, als sie mit der unerbittlichen Wucht eines durch revolutionäre Vorgänge beschleunigten Geschichtsprozesses im bekannten Tempo über die Bühne ging. Nicht zuletzt traf der Vorgang die Deutschen hüben und drüben anfangs völlig unvorbereitet.

Man führe aber diese Überlegung nicht ad absurdum, das heisst bis zur Behauptung, die Deutschen hätten die Zusammenführung der Ost- und Westmarken ihres Landes gar nicht gewollt. Zugegeben, einige Deutsche zögerten und zögern mit einem klaren «Ja» zur Wiedervereinigung, zum neuen Deutschland. Vielen kam alles zu schnell und zu früh. Andere halten den jetzt erfolgten Machtgewinn für gefährlich. Und ein kleines Grüppchen etwas makabrer «Nostalgiker» trauert dem Verlust einer nach ihrem Dafürhalten heilen Welt in der völlig rückständigen europäischen Landschaft nach, welche die DDR darstellte.4

Wohlstand hat seinen Preis

Hier ist allerdings einzuräumen, dass der harte und fordernde Alltag einer kapitalistischen Marktwirtschaft auch Schattenseiten hat, die der vom Staat völlig bevormundete bzw. «betreute» Bürger der DDR kaum kannte. Wohlstand hat indessen seinen Preis und lässt sich nicht über Nacht aus dem Boden stampfen. Im übrigen haben aber die parlamentarischen Gremien beider Teile Deutschlands die Wiedervereinigung auf Grund der mit gewaltigem Arbeitseinsatz in Rekordzeit ausgearbeiteten umfänglichen Gesetzgebung gutgeheissen. Das vereinigte Deutschland ist ein wichtiger Teil der neuen Strukturen unseres Kontinents, die sich heute – nach den von einem Erdbeben ausgelösten tektonischen Verschiebungen – allmählich klarer abzeichnen.5

In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober wurde in Berlin um Mitternacht die Fahne des neuen Staates hochgezogen, am dritten Oktober offiziell die Geburtsstunde des neuen Deutschlands gefeiert. Nach den Wahlen am 2. Dezember beginnt ein neues Kapitel deutscher Geschichte.

Günstige Ausgangslage

Wenn man zurückblendet, so stand die deutsche Frage anfangs keineswegs im Epizentrum des grossen, die Urfesten unseres Kontinents erschütternden Bebens. Wichtigste auslösende Faktoren waren

  • – der Zerfall einer Ideologie und die schwindende Anziehungskraft ihrer geistigen Väter, angefangen von Marx und Engels bis zu Lenin und Stalin.
  • – Parallel dazu wurden wir Zeugen des Niedergangs eines vom Marxismus-Leninismus getragenen und von dessen Interpreten ausgebauten und allmählich immer perfektionierteren Systems der Machtausübung.
  • – Als Instrument der Geschichte erwies sich in erster Linie Michail Gorbatschow, der die Zeichen der Zeit erkannte und auch den bereits verunsicherten ostdeutschen Satrapen, als deren Soldateska noch im Stechschritt an der Berliner Ehrentribüne vorbeidefilierte, das berühmte Wort «wer zu spät kommt, den straft die Geschichte» ins Album schrieb.

Dabei war Gorbatschow weder ein Hellseher noch ein Prophet (mit der Zerschlagung des sowjetischen Herrschaftssystems und dem Aufbau einer Marktwirtschaft tut er sich noch heute schwer). Aber er war und ist – den Titel borge ich mir von Lermontow aus – «Ein Held unserer Zeit». Er liess – um in den Märchen-Kategorien zu bleiben – den Geist aus der Flasche. Mit anderen Worten: Er öffnete die Käfige, in welchen Geist und Wille der Völker Ost- und Mitteleuropas so lange gefangengehalten worden waren.

Am 9. November 1989 begann so auch der Abbruch der Mauer, des berühmtesten, aus Stein und Beton gefertigten Teils des eisernen Vorhangs. Die Fäuste des ostdeutschen Volkes ballten sich und von den Strassen und Plätzen ihrer Städte erhob sich der vom Freiheitsgedanken getragene Ruf «Wir sind das Volk». Den restlichen Verlauf der Geschichte kennt der Leser. Wir alle wurden Zeugen einer unblutigen Revolution.

Der unwiderstehliche Ruf der Freiheit

Erstaunlich war vielleicht höchstens, dass ausgerechnet die im Obrigkeitsdenken verwurzelten Deutschen eine Revolution ins Rollen brachten. Sie taten dies – vergessen wir das nicht – mit Würde, Disziplin und Willenskraft. Die Zielsetzung der Leute, welche die Machtsymbole der Tyrannei niederrissen, wird am besten durch das Wort «Freiheit» umschrieben. Nationalistische Töne waren kaum auszumachen. Das gilt auch heute noch, und zwar für ganz Deutschland.6

Angst vor einem grösseren Nachbarn im Norden wäre für uns Schweizer völlig deplaziert. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Und die Deutschen der Neunzigerjahre haben mental weder mit ihren kriegstüchtigen bzw. politisch ambitiösen Vorfahren wie Friedrich dem Grossen oder Bismarck, noch mit den von Hitler heraufbeschworenen Dämonen des Dritten Reiches etwas gemeinsam. Ihr heutiges Bekenntnis zu Europa, zur Versöhnung mit Frankreich und Polen, zur Freundschaft mit allen Europäern und zu weltoffener Gesinnung in allen wichtigen Belangen ist ernst zu nehmen.

Misstrauen wäre kontraproduktiv

Wir sollten unseren Nachbarn das Misstrauen ersparen, das ihnen da und dort immer noch entgegenschlägt.7 Es könnte kontraproduktive Wirkungen zeitigen. Wenn jemand gute Absichten hegt und man ihm unbeirrt immer wieder schlechte unterstellt, so riskiert bei ihm am Ende die Frage aufzukommen, was ihm sein Wohlverhalten letztlich einbringt. Das wäre fatal. Und dazu darf es nicht kommen. Diesbezüglich sind wir mit in die Verantwortung einbezogen.

Am 2. Oktober hatten wir Schweizer somit Anlass, uns mit den Deutschen über die Erfüllung des durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland artikulierten Staatsziels der Wiedervereinigung zu freuen.8

Die Geschichte brachte den nördlichen Nachbarn und uns allen am 2. Oktober einen historischen Tag, dem – wie wir alle hoffen – ein neues, nicht minder wichtiges, europäisches Kapitel folgen wird: Die Zeit des grossen Brückenschlags, der den ganzen alten Kontinent erfasst, in dem auch wir Schweizer zu gegebener Zeit einen angemessenen Platz finden werden.

1
CH-NB#Pq 21410. Der Artikel von Botschafter Alfred Hohl erschien in der Ausgabe 2/1990 der EDA-Zeitschrift «Die Schweiz und die Welt» vom November 1990, S. 51–52 (in der Rubrik «Ein Botschafter schreibt uns»). Eine französische Übersetzung des gesamten Artikels folgt auf den folgenden Seiten und eine Zusammenfassung auf Italienisch ist am Ende von S. 54 zu finden, vgl. das Faksimile dodis.ch/56631. Die Grundlage für den Artikel bildete eine Notiz Hohls vom 26. September 1990 mit dem Titel «Zur Wiedervereinigung Deutschlands», die für die Publikation sprachlich leicht angepasst und in die Vergangenheitsform gesetzt wurde, vgl. dodis.ch/56096. Für die Korrespondenz, die im Zusammenhang mit dem 1990 ins Leben gerufenen EDA-Magazin angefallen ist, vgl. das Dossier CH-BAR#E2010A#1999/250#395* (A.22.14.07.10).
2
Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wurde durch den Beitritt der DDR zur BRD in der Nacht auf den 3. Oktober 1990 vollzogen. Das Datum markierte fortan den Tag der Deutschen Einheit. Noch am 10. September 1990 hatte der Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, der Schweiz einen offiziellen Arbeitsbesuch abgestattet, vgl. dazu DDS 1990, Dok. 35, dodis.ch/55552.
3
Dieser Lead ist in der Notiz von Botschafter Hohl vom 26. September 1990 noch nicht enthalten und wurde redaktionell hinzugefügt, vgl. dodis.ch/56096.
4
Gemäss Korrespondenzen von Ende Oktober 1990 sah Botschafter Hohl auch in seinem in Berlin (DDR) akkreditierten Kollegen Botschafter Franz Birrer einen solchen «Nostalgiker». Dessen Wertung der Vorgänge in Deutschland gingen von den seinigen «derart auseinander, dass eine Doppeldarstellung, sozusagen aus West- und Ostsicht für Bern verwirrlich wirken muss». Hohl empfahl dem Direktor der Politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Klaus Jacobi, Birrer aufgrund seiner «tendenziösen Berichterstattung» aus Berlin abzuziehen. Zu den Berichten Birrers vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1780, zur Auseinandersetzung zwischen Birrer und Hohl vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1779.
5
Vgl. dazu die Studie der schweizerischen Botschaft in Bonn zur Wiedervereinigung vom 15. Februar 1990, dodis.ch/56429.
6
Für die Einschätzungen Botschafter Birrers vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1780.
7
Vgl. dazu das Interview des Magazins Brückenbauer mit dem Vorsteher des EDA, Bundesrat René Felber, vom 3. Oktober 1990, dodis.ch/56598 bzw. dodis.ch/56433.
8
Für das Gratulationsschreiben des Bundesrats vgl. das BR-Prot. Nr. 2088 vom 1. Oktober 1990, dodis.ch/55347. Für eine Analyse des Politischen Sekretariats des EDA zur Wiedervereinigung der deutschen Staaten vgl. DDS 1990, Dok. 43, dodis.ch/56427.