dodis.ch/56411Notiz des Vizedirektors der Direktion für Völkerrecht des EDA, Minister von Däniken1

Eurovision: Europapolitik

Streng vertraulich

Im Anschluss an unsere Sitzung vom 8.10.1990 habe ich das Euch bekannte Aussprachepapier2 noch einmal überarbeitet. Unser Kollege Bärfuss hat gleichzeitig die persönliche Mitarbeiterin des EDA-Vorstehers3 auf dieses Papier aufmerksam gemacht, welche es in der überarbeiteten Version an Bundesrat Felber weiterleitete. In der Folge beschloss der Departementschef, mich zu einer Aussprache über die Richtung der schweizerischen Europapolitik beizuziehen, die er ohnehin mit dem Chef des Integrationsbüros4 vereinbart hatte. Das Gespräch fand am 25.10.1990 statt und dauerte eine knappe Stunde. Es lässt sich wie folgt zusammenfassen.

BRF [Bundesrat Felber] bezeichnet rückblickend das EWR-Konzept5 als «bon moyen», das den EFTA-Staaten zwecks Ausbau und Vertiefung ihrer Beziehungen zur EG angeboten worden war. Inzwischen hat sich aber einiges geändert, sodass BRF [Bundesrat Felber] – und, wie er sagt, mit ihm die übrigen Mitglieder des Bundesrates – heute davon ausgeht, dass der EWR-Vertrag mit Gewissheit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückbleiben wird.6 Er ist aber überzeugt, dass der Bundesrat mit Rücksicht auf die innenpolitische Situation (fehlende Mehrheit für einen EG-Beitritt) praktisch jeden EWRV annehmen und den Mut nicht aufbringen wird, einen EWRV abzulehnen – es sei denn, dass auch andere EFTA-Regierungen das Verhandlungsergebnis als unbefriedigend zurückweisen.

Für BRF [Bundesrat Felber] bildet der EWR eine Zwischenstufe auf dem Weg zur EG-Mitgliedschaft. Er gibt sich zuversichtlich, dass das Volk dem Vertrag zustimmen wird,7 selbst wenn die zu erbringenden materiellen Zugeständnisse nicht viel weniger weit gehen als jene, die im Fall eines Beitritts zu entrichten wären. Dass die Finalität des EWR-Vertrages auch im Fall der Schweiz die EG-Mitgliedschaft ist, steht für BRF [Bundesrat Felber] ausser Zweifel, und er wäre offenbar auch bereit, dies anlässlich des Ratifikationsverfahrens in aller Klarheit und öffentlich zu sagen.8 Wird diese Finalität nicht anerkannt, haben die mit dem EWRV zu erbringenden Konzessionen keinen Sinn. BRF [Bundesrat Felber] bestätigt, dass der Bundesrat unter diesen Voraussetzungen auf einen «political breakthrough» bei den Verhandlungen noch vor Ende Jahr hoffe.9

BRF [Bundesrat Felber] legt grossen Wert auf die Unterscheidung zwischen dem, was er persönlich als Staatsbürger denkt, und dem, wofür er als Vorsteher des EDA und Mitglied des Bundesrates Verantwortung trägt. Persönlich befürwortet er einen EG-Beitritt ohne Wenn und Aber. Als Mitglied der Landesregierung muss er hingegen Rücksicht nehmen auf die politische Stimmung im Bundesrat und bei der Bevölkerung. Engagiert sich das EDA jetzt zu stark und zu offen für einen EG-Beitritt, riskiert es, im weiteren Verlauf der integrationspolitischen Auseinandersetzungen an Glaubwürdigkeit zu verlieren. BRF [Bundesrat Felber] ist, wie er sagt, z. B. vorderhand nicht bereit, der Verwaltung ein formelles und offizielles Mandat zur Abklärung sämtlicher Aspekte eines EG-Beitritts zu erteilen; was nicht heisst, dass intern die verschiedenen Anstrengungen in dieser Richtung erlahmen sollen. A fortifiori dürfte es für BRF [Bundesrat Felber] auch noch zu früh sein, eine nationale Kommission zur Überprüfung des EG-Beitritts einzusetzen, oder die Totalrevision der Bundesverfassung im Hinblick auf einen Beitritt an die Hand zu nehmen. Er sieht im Moment auch keinen Bedarf für ein Aussprachepapier zu Handen des Bundesrates, schliesst aber nicht aus, zu gegebener Zeit ein solches dem Bundesrat zu unterbreiten.

Bemerkenswert ist im weiteren, dass BRF [Bundesrat Felber] vor allem auf seiten einzelner EG-Mitgliedstaaten durchaus die Bereitschaft sieht, die Schweiz als Mitglied zu akzeptieren. Entsprechende Hinweise haben sich, wie auch der Chef des Integrationsbüros bestätigt, in jüngster Zeit vermehrt, was im Gegensatz zur Behauptung der EG-Kommission steht, eine Erweiterung der EG sei in nächster Zeit ausgeschlossen.

BRF [Bundesrat Felber] hält es für sinnvoll, dass sich die Arbeitsgruppe Eurovision10 mit der Europa-Politik auseinandersetzt, vorausgesetzt, dass dies in vernünftiger Arbeitsteilung mit dem Integrationsbüro geschieht. Als Themen zur weiteren Vertiefung eignen sich seiner Meinung nach, und «à titre d’exemple» die Institutionen (gemeint sind offenbar die staatsrechtlichen Folgen eines EG-Beitritts) und die Neutralität.

Aufschlussreich für die Europa-Einstellung des EDA-Vorstehers ist die Art und Weise, wie er sich mit gewissen Argumenten von Gegnern des EG-Beitritts auseinandersetzt:

  • – Ein EG-Beitritt wird den inneren Zusammenhalt der Schweiz entgegen oft gehörten Behauptungen nicht schwächen, sondern, im Gegenteil, stärken (eine Überlegung, die wir teilen).
  • – Die Schweiz ist mit ihren spezifischen demokratischen Traditionen und Einrichtungen nicht «demokratischer» als andere europäische Staaten. Besonderheiten in der Ausgestaltung der demokratischen Rechte machen einen Staat noch nicht zu einem Sonderfall.
  • – Blickt man über die Grenzen, so wird man rasch feststellen, dass Deutsche, Franzosen und Italiener trotz EG-Angehörigkeit nicht weniger «glücklich» leben als die Schweizer.

Meines Erachtens lohnt es sich, über das Ergebnis dieser Aussprache sowie über das weitere Vorgehen innerhalb der Eurovision-Gruppe zu diskutieren. Als Termin für die nächste Sitzung schlage ich den Mittwoch, den 7. November 1990, um 17:00 (W 216) vor.

1
CH-BAR#E2010A#2001/161#6106* (B.75.76(1)). Die Notiz wurde vom Vizedirektor der Direktion für Völkerrecht des EDA, Franz von Däniken, verfasst und an die Mitglieder der Arbeitsgruppe Eurovision, namentlich an den stv. Chef des Politischen Sekretariats, Josef Aregger, den Sektionschef im Integrationsbüro EDA–EVD, Rudolf Bärfuss, den stv. Chef im Finanz- und Wirtschaftsdienst, Paul Fivat, Tim Guldimann vom Politischen Dokumentationsdienst, Peter Maurer vom Politischen Sekretariat, den stv. Sektionschef für internationale wissenschaftliche Angelegenheiten der Direktion für internationale Organisationen, Patrick Piffaretti, den Chef des KSZE-Diensts, Paul Widmer sowie an den stv. Chef der Politischen Abteilung I, Daniel Woker verschickt. Die Arbeitsgruppe Eurovision war vom Direktor der Politischen Direktion, Staatssekretär Klaus Jacobi, ins Leben gerufen worden mit dem Ziel, sich in «undogmatischer und kreativer Weise mit der schweizerischen Vision für ein zukünftiges Europa» auseinanderzusetzen, vgl. dodis.ch/56661.
2
Nicht ermittelt.
3
Margrith Hanselmann.
4
Jakob Kellenberger.
5
Vgl. DDS 1990, Dok. 8, dodis.ch/54934 und Dok. 23, dodis.ch/55262.
6
Zur Einschätzung der EWR-Verhandlungen durch den Bundesrat vgl. das BR-Beschlussprot. II vom 24. Oktober 1990, dodis.ch/55184.
7
Der Bundesbeschluss über den Europäischen Wirtschaftsraum wurde am 6. Dezember 1992 in einer Volksabstimmung mit 50,3% Nein-Stimmen abgelehnt.
8
Diese Aussage widerspricht der Position, welche der Vorsteher des EDA, Bundesrat René Felber, und der Vorsteher des EVD, Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz, in einer Notiz an den Bundesrat vertreten hatten, vgl. DDS 1990, Dok. 23, dodis.ch/55262.
9
Zu den EWR-Verhandlungen vgl. DDS 1990, Dok. 52, dodis.ch/55288; dodis.ch/54664 und dodis.ch/55507.
10
Zur Arbeitsgruppe Eurovision und ihren Aufgaben vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1808.