dodis.ch/56148Interdepartementale Sitzung vom 19. November 19901

Beitritt der Schweiz zum Erstasylabkommen der EG

1. Grundsätzliche Haltung der Schweiz zu einem Beitritt

Ein Beitritt der Schweiz zum Erstasylabkommen der EG wird grundsätzlich von allen vertretenen Stellen befürwortet.2 Es besteht ein integrations- und ein asylpolitisches Interesse. Diese Haltung wird in direkten Zusammenhang gestellt zu den Auswirkungen für die Schweiz im Hinblick auf die kommende Freizügigkeit, die Vereinfachung der Zollkontrollen an den Grenzen und das Abkommen über Aussengrenzen der EG.3 Allerdings sind vorgängig wichtige zentrale Fragen zu klären. Die Pflichten und Rechte für uns müssen klar erkennbar sein. Grundvoraussetzung ist auch, dass die Schweiz ein Mitbestimmungsrecht hat.

Das Erstasylabkommen ist nicht Teil der Verhandlungen im Zusammenhang mit dem EWR. Die Möglichkeit, ausserhalb des EWR mit der EG zusammenzuarbeiten, sollte voll genutzt werden.4

2. Erstasylabkommen der EG

Entgegen des Wortlautes des Abkommenstextes, wonach nur EG-Mitglieder sich dem Übereinkommen anschliessen können (Art. 21), handelt es sich politisch gesehen um eine offene Konvention.5 Im Schlussprotokoll der Unterzeichnung des Abkommens wurde festgehalten, dass auch Drittstaaten dem Abkommen beitreten können.

Das Erstasylabkommen der EG entfaltet eine bessere Wirkkraft als das vom Europarat vorgesehene6 und ist daher vorzuziehen. Während jenes des Europarates kein Gremium für die praktische Umsetzung von Konventionen enthält, sieht Artikel 18 des EG-Erstasylabkommens die Einsetzung eines Ausschusses vor, der für die technische, juristische und administrative Anwendung verantwortlich ist.

Es ist jedoch festzuhalten, dass mit dem Inkrafttreten des Erstasylabkommens die praktische Durchführung noch nicht gewährleistet ist. Auch innerhalb der EG sind sich noch nicht alle Staaten einig. Die praktischen Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf (wie z. B. Identifikation durch Fingerabdrücke) müssen noch geschaffen werden.

Bedingt ein Beitritt zum Erstasylabkommen auch einen Beitritt zum Schengener Abkommen?7 Welches sind die Zusammenhänge?

Das Schengener Abkommen besteht aus drei Teilen:

  • – Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen und Personenverkehr
  • – Polizeiliche Zusammenarbeit
  • – Zuständigkeit für die Behandlung von Asylbegehren.

Da innerhalb der Gesamt-EG noch keine Einigung in Bezug auf die Anwendung des Schengener Abkommens besteht, wird es in Einzelabkommen konkretisiert, um so wenigstens punktuell zum Ziel zu gelangen. Neben dem Erstasylabkommen bestehen auch Bestrebungen für eine Vereinbarung über die Grenzkontrollen, wobei der Grundsatz noch offen ist, ob es sich um eine offene oder geschlossene Konvention handeln wird. Schweizerischerseits ist das Bundesamt für Ausländerfragen damit befasst.

Die Schweiz verhält sich in vielen Belangen bereits jetzt kooperativ mit der EG. Als Beispiel sei die Anpassung der Visapolitik (kürzliche Einführung der Visumpflicht für Angehörige aus den Maghrebstaaten)8 erwähnt. Dieses parallele Mitziehen mit der EG stösst aber auf Grenzen. Die Frage eines Beitritts zum Erstasylabkommen stellt sich ganz besonders in den Bereichen der Amtshilfe und des Datenaustausches.

3. Konsequenzen eines Beitritts der Schweiz

Die von den betroffenen Bundesämtern geäusserten Fragen, Anliegen und Vorbehalte betreffen vor allem

  • – den Datenschutz in der Schweiz, der nicht europakonform ist und entsprechend angepasst werden müsste.
  • – die Gewährleistung der Übereinstimmung mit den Zielsetzungen des schweizerischen Asylgesetzes. Steht die Anwendung des Erstasylabkommens im Widerspruch mit der durch das AVB9 beschlossenen Beschleunigung des Verfahrens. Welche Stellung haben vorläufig aufgenommene Personen oder De-Facto-Flüchtlinge?
  • – sicherheitspolitische Aspekte (Kontrolltätigkeit)
  • – Probleme bei der praktischen Durchführung (Amtshilfe)
  • – das Vorhandensein des fakultativen Referendums in der Schweiz.

Grosse Bedenken werden geäussert hinsichtlich des geplanten Ausschusses. Wie weit werden seine Kompetenzen gehen? Ist der Ausschuss befugt, neue Gesetze oder Gesetzesänderungen in den einzelnen Mitgliedstaaten zu veranlassen? Gestützt auf Erfahrungen mit anderen EG-Vereinbarungen scheint jedoch das im Erstasylabkommen erwähnte Gremium nicht über diese Autonomie zu verfügen.

4. Weiteres Vorgehen

Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Schweiz nicht im Alleingang sondern gemeinsam mit den EFTA- und anderen interessierten Staaten Verhandlungen mit der EG für einen Beitritt zum Erstasylabkommen aufnehmen soll.10

Nachdem das Bundesamt für Flüchtlinge direkt von Auswirkungen eines solchen Abkommens betroffen ist und die Einwanderungskompetenz generell beim EJPD liegt, wird das BFF11 die Federführung für dieses Geschäft übernehmen in enger Zusammenarbeit mit dem Koordinator für internationale Flüchtlingspolitik12 und unterstützt von allen anderen interessierten Bundesstellen, speziell vom Integrationsbüro.

Am 28. November findet in Genf eine erste exploratorische Sitzung13 statt mit einer Gruppe interessierter Nicht-EG-Staaten, die sich im Rahmen der Informellen Zwischenstaatlichen Konsultationen für Asyl- und Flüchtlingsfragen in Europa und Nordamerika gebildet hat. Initiator ist Schweden, das auch den Vorsitz innehat. Die Schweiz wird an dieser Sitzung vertreten sein durch das Bundesamt für Flüchtlinge (G. Zürcher) und den Koordinator für internationale Flüchtlingspolitik (Botschafter R. Weiersmüller). Diese entscheiden über allfällige weitere Teilnehmer.

Mit einer Notiz informiert das BFF Herrn Bundespräsident Koller zuhanden des asylpolitischen Ausschusses des Bundesrates (Bundesräte Felber und Delamuraz) über die Aufnahme der Abklärungsarbeiten in den betroffenen Bundesstellen.

Termin für die Ablieferung der bundesinternen Stellungnahmen: Ende Dezember 1990. Gestützt auf diese Angaben unterbreitet das BFF dem Bundesrat einen Antrag um Erteilung des Verhandlungsmandats.14

Am 5./6. Dezember treffen sich in Rom die für die Immigration und TREVI zuständigen Minister der EG. Die Schweiz sowie weitere Nicht-EG-Staaten wurden ebenfalls eingeladen. Dort könnten die ersten Kontakte mit der EG, resp. deren Ad-hoc-Gruppe Immigration geknüpft werden.15

1
CH-BAR#E2010A#1999/250#1068* (B.41.21.03). Das Protokoll wurde von Maya Appenzeller Blaser, der Assistentin des Koordinators für internationale Flüchtlingspolitik des EDA, verfasst und unterzeichnet. An der Sitzung nahmen zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter des EDA, des EJPD und der Bundesanwaltschaft teil. Das Protokoll wurde den Teilnehmenden der Sitzung, dem Direktor der Politischen Direktion, Staatssekretär Klaus Jacobi, dem Kordinator für internationale Flüchtlingspolitik, Botschafter Rudolf Weiersmüller, dem Generalsekretariat des EDA und verschiedenen schweizerischen Vertretungen im Ausland zugeschickt. Für die vollständige Liste der Adressaten und der Sitzungsteilnehmenden vgl. das Faksimile dodis.ch/56148.
2
Zum Erstasylabkommen der EG vgl. die Orientierungsnotiz des Vorstehers des EJPD, Arnold Koller, an den Bundesrat über die TREVI-Konferenz der EG vom 14. und 15. Juni 1990 in Dublin,dodis.ch/56149. Eine nationale Asylkonferenz forderte bereits im Mai 1990 eine verstärkte internationale Zusammenarbeit im Bereich der Asylpolitik, vgl. dodis.ch/56476 sowie dodis.ch/55639.
3
Zur Frage des Personenfreizügigkeit vgl. dodis.ch/55645 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1800.
4
An einer informellen Sitzung zwischen Vertretern der EG und Drittstaaten am 28. November 1990 wurde deutlich, dass die EG die Zusammenarbeit auf den spezifisch asylrechtlichen Bereich beschränken und alle binnenmarktrelevanten Punkte grundsätzlich ausklammern wollte, vgl. dodis.ch/56147.
5
Für eine detaillierte Analyse des Erstasylabkommens durch die Direktion für Völkerrecht des EDA vgl. dodis.ch/56078.
6
Zur Initiative des Europarats vgl. dodis.ch/56686.
7
Ein Beitritt zum Schengener Abkommen war zu diesem Zeitpunkt nur für EG-Staaten vorgesehen, vgl. dodis.ch/56316.
8
Die Visumabkommen mit Algerien, Marokko und Tunesien wurden am 31. Oktober 1990 gekündigt. Ab 1. Januar 1991 galt für Staatsangehörige der erwähnten Staaten eine Visumpflicht, vgl. das BR-Prot. Nr. 2292 vom 31. Oktober 1990, dodis.ch/56285.
9
Zum Bundesbeschluss über das Asylverfahren vgl. dodis.ch/55789 und dodis.ch/55791.
10
So tauschte sich die Schweiz auch im Rahmen eines Treffens der Aussenminister der vier Neutralen über Flüchtlings- und Asylpolitik aus, jedoch sei das Forum der «informellen zwischenstaatlichen Konsultationen über Asyl- und Flüchtlingsfragen in Europa und Nordamerika» zweckmässiger, vgl. dodis.ch/56316.
11
Das Bundesgesetz über die Schaffung eines Bundesamts für Flüchtlinge trat am 2. Oktober 1990 in Kraft, vgl. das BR-Prot. Nr. 2106 vom 1. Oktober 1990, dodis.ch/56667.
12
Rudolf Weiersmüller.
13
Für eine Zusammenfassung der Sitzung vgl. dodis.ch/56147.
14
Für den weiteren Verlauf der Diskussionen rund um den Beitritt der Schweiz zum Erstasylabkommen vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1879, sowie den Bericht des Bundesrates zur Ausländer- und Flüchtlingspolitik, Amtl. Bull. NR, 1991, III, S. 996–1020 und die Motion 91.3178 Beitritt der Schweiz zum europäischen Erstasylabkommen von Ständerat Hans Jörg Huber vom 17. Juni 1991, Amtl. Bull. SR, 1991, IV, S. 888 f.
15
Zur TREVI-Konferenz der EG in Rom vgl. dodis.ch/57907 und dodis.ch/57908.