Lothar de Maizière (M) stattete der Schweiz im Rahmen eines Aufenthalts, bei dem er vor allem schweizerische Investoren zum Aufbau der maroden DDR-Industrie suchte,2 einen offiziellen Arbeitsbesuch ab. Bundespräsident Koller gab ein Mittagessen und empfing den Gast zu einem halbstündigen Höflichkeitsbesuch.3 Die politischen Gespräche mit Bundesrat René Felber (BRF) drehten sich um die europäische Architektur, Aspekte der deutschen Vereinigung und um bilaterale Fragen.
[De] M[aizière] betonte besonders den positiven Aspekt der deutschen Vereinigung im Rahmen der europäischen Architektur.4 Das Entstehen des grösseren Deutschlands sei für Gesamteuropa ein Katalysator, indem das Beziehungsnetz der DDR zum Osten nun in den Westen eingebracht werde.5 Man habe heute die gesamteuropäische Geschichte wiedergefunden: Prag, Budapest und Berlin seien «zurückgekehrt». Grosses Gewicht legte [de] M[aizière] auf die KSZE, deren wichtige Rolle seit ihrem Beginn eben auch massgeblich zum jetzigen politischen Aufbruch Europas geführt habe. [De] M[aizière] plädierte dabei für eine KSZE-Institutionalisierung vor allem im Bereich der friedlichen Streitschlichtung, welche wohl am besten den Frieden überhaupt sichere. Im Übrigen wünscht er sich allgemein mehr Verbindlichkeit bei den KSZE-Beschlüssen, vor allem im Abrüstungssektor, wo die Sowjetunion noch mehr Schritte machen müsse.6
Auf Fragen BRF [Bundesrat Felber]’s nach dem Verhältnis der Deutschen zu Osteuropa und nach der Einschätzung der Lage in der Sowjetunion beurteilt [de] M[aizière] die Beziehung der Ostdeutschen zur CSFR und zu Ungarn als unkompliziert, dasjenige zu Polen [als] etwas belastet. Mit der Ausdehnung der D-Mark an die Oder-Grenze sei das materielle Gefälle spürbarer geworden, und der Ausverkauf der raren polnischen Waren an DDR-Bürger mit D-Mark schaffe soziale Spannungen. [De] M[aizière] betont die Wichtigkeit eines umfassenden deutsch-polnischen Vertrags, der neben den unbestrittenen Grenzfragen auch die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen regeln muss. Die landsmannschaftlichen Umtriebe in Oberschlesien bezeichnet er als nicht durchsetzungsfähig, wie er auch die nationalistischen Strömungen in Deutschland als wenig tragend erachtet. Den Republikanern gibt er bei der Dezemberwahl auf dem Gebiet der heutigen DDR keine Chance.7
In Bezug auf die Sowjetunion äussert sich [de] M[aizière] sehr pessimistisch. Im Jahre 2000 bestehe die Union nicht mehr, sondern nur noch unabhängige Republiken. Gorbatschow habe dies erkannt; sein Bestreben sei es nun, das Unausweichliche einigermassen zu kanalisieren und den Prozess geordnet ablaufen zu lassen. Dabei müsse er vor allem auf die konservativen Militärs Rücksicht nehmen. Ein flexibles Föderationsgesetz könnte helfen, das Auseinanderbrechen abzudämpfen. Mittelfristig sprechen alle Anzeichen für ein Scheitern Gorbatschows: Keine Erfahrung des Landes mit Demokratie und freien Marktmechanismen, soziale Not, Hunger, ausserhalb der auseinanderfallenden Partei keine sozial integrierenden Kräfte. Diese Notlage habe auch die Kontrahenten Jelzin und Gorbatschow wieder zusammengebracht, in der Erkenntnis, dass nur mit einem gewissen Zusammengehen das Chaos vermieden werden kann.8
Besondere Sorge bereiten [de] M[aizière] auch die sowjetischen Truppen in der DDR, die noch mehrere Jahre dort bleiben. Kontaktlosigkeit zur Bevölkerung und Disziplinlosigkeit schaffen Probleme. Bereits jetzt sei bekannt, dass sich viele Soldaten weigern würden, in ihre Heimat zurückzukehren.
[De] M[aizière] bezeichnet die deutsche Vereinigung als Chance für die Deutschen, endlich die Trümmer eines falschen Systems auszuräumen. Die DDR liege nicht nur wirtschaftlich-politisch als Ruine da, sondern auch kulturell-mental. Gerade die geistigen Deformierungen seien gewaltig. Deren Behebung brauche Zeit. Die schweizerische Seite empfiehlt dazu vor allem auch Kontakte unter Bildungsinstitutionen, Wissenschaftlern und Künstlern.9 Mittel- bis langfristig sieht [de] M[aizière] grossen Bedarf an Mitteln zur Bereitstellung einer wirtschaftlichen Basis. Der technologische Rückstand sei erheblich, und es gehe nun darum, den Gesundungsprozess nicht allein eine innerdeutsche Angelegenheit sein zu lassen. Besonderes Gewicht legt [de] M[aizière] dabei auf die Wiederherstellung eines funktionierenden Kleingewerbes und Mittelstandes, wo ihm Berufskontakte mit schweizerischen Kreisen als wichtig erscheinen. Föderalismuserfahrung und Gemeindeverwaltung seien ebenfalls unbekannte Grössen, und er bittet die Schweiz, hier hilfreich zur Seite zu stehen. BRF [Bundesrat Felber] betont seinerseits, dass die regionale Zusammenarbeit zwischen Kantonen und den neuen 5 Ländern der DDR wichtig sei. In allen gesellschaftlichen Bereichen müssten nun die Kontakte intensiviert werden.
Im bilateralen Bereich sind keine Probleme zu vertiefen. Die Frage nach der Fortführung der mit der DDR abgeschlossenen Verträge wird mit der BRD in jedem Einzelfalle zu prüfen sein.10 BRF [Bundesrat Felber] betont, dass die Anmeldefrist für Vermögensansprüche zu kurz sei und dass die Schweiz diese Frist (13.10.90)11 nicht als verwirkend betrachte, da die Ansprüche früher bereits bei anderen Stellen geltend gemacht werden seien.12 [De] M[aizière] zeigt Verständnis und meint, die Wiedereinsetzung der Rechte werde auch bei zu später Anmeldung nicht gefährdet. Die kurze Frist sei vor allem deshalb gesetzt worden, um eine baldige Rechtsklärung herbeizuführen.