dodis.ch/55552Gespräch des Vorstehers des EDA, Bundesrat Felber, mit dem Ministerpräsidenten der DDR, de Maizière1

Offizieller Arbeitsbesuch des Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, in Bern, 10. September 1990

Lothar de Maizière (M) stattete der Schweiz im Rahmen eines Aufenthalts, bei dem er vor allem schweizerische Investoren zum Aufbau der maroden DDR-Industrie suchte,2 einen offiziellen Arbeitsbesuch ab. Bundespräsident Koller gab ein Mittagessen und empfing den Gast zu einem halbstündigen Höflichkeitsbesuch.3 Die politischen Gespräche mit Bundesrat René Felber (BRF) drehten sich um die europäische Architektur, Aspekte der deutschen Vereinigung und um bilaterale Fragen.

[De] M[aizière] betonte besonders den positiven Aspekt der deutschen Vereinigung im Rahmen der europäischen Architektur.4 Das Entstehen des grösseren Deutschlands sei für Gesamteuropa ein Katalysator, indem das Beziehungsnetz der DDR zum Osten nun in den Westen eingebracht werde.5 Man habe heute die gesamteuropäische Geschichte wiedergefunden: Prag, Budapest und Berlin seien «zurückgekehrt». Grosses Gewicht legte [de] M[aizière] auf die KSZE, deren wichtige Rolle seit ihrem Beginn eben auch massgeblich zum jetzigen politischen Aufbruch Europas geführt habe. [De] M[aizière] plädierte dabei für eine KSZE-Institutionalisierung vor allem im Bereich der friedlichen Streitschlichtung, welche wohl am besten den Frieden überhaupt sichere. Im Übrigen wünscht er sich allgemein mehr Verbindlichkeit bei den KSZE-Beschlüssen, vor allem im Abrüstungssektor, wo die Sowjetunion noch mehr Schritte machen müsse.6

Auf Fragen BRF [Bundesrat Felber]’s nach dem Verhältnis der Deutschen zu Osteuropa und nach der Einschätzung der Lage in der Sowjetunion beurteilt [de] M[aizière] die Beziehung der Ostdeutschen zur CSFR und zu Ungarn als unkompliziert, dasjenige zu Polen [als] etwas belastet. Mit der Ausdehnung der D-Mark an die Oder-Grenze sei das materielle Gefälle spürbarer geworden, und der Ausverkauf der raren polnischen Waren an DDR-Bürger mit D-Mark schaffe soziale Spannungen. [De] M[aizière] betont die Wichtigkeit eines umfassenden deutsch-polnischen Vertrags, der neben den unbestrittenen Grenzfragen auch die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen regeln muss. Die landsmannschaftlichen Umtriebe in Oberschlesien bezeichnet er als nicht durchsetzungsfähig, wie er auch die nationalistischen Strömungen in Deutschland als wenig tragend erachtet. Den Republikanern gibt er bei der Dezemberwahl auf dem Gebiet der heutigen DDR keine Chance.7

In Bezug auf die Sowjetunion äussert sich [de] M[aizière] sehr pessimistisch. Im Jahre 2000 bestehe die Union nicht mehr, sondern nur noch unabhängige Republiken. Gorbatschow habe dies erkannt; sein Bestreben sei es nun, das Unausweichliche einigermassen zu kanalisieren und den Prozess geordnet ablaufen zu lassen. Dabei müsse er vor allem auf die konservativen Militärs Rücksicht nehmen. Ein flexibles Föderationsgesetz könnte helfen, das Auseinanderbrechen abzudämpfen. Mittelfristig sprechen alle Anzeichen für ein Scheitern Gorbatschows: Keine Erfahrung des Landes mit Demokratie und freien Marktmechanismen, soziale Not, Hunger, ausserhalb der auseinanderfallenden Partei keine sozial integrierenden Kräfte. Diese Notlage habe auch die Kontrahenten Jelzin und Gorbatschow wieder zusammengebracht, in der Erkenntnis, dass nur mit einem gewissen Zusammengehen das Chaos vermieden werden kann.8

Besondere Sorge bereiten [de] M[aizière] auch die sowjetischen Truppen in der DDR, die noch mehrere Jahre dort bleiben. Kontaktlosigkeit zur Bevölkerung und Disziplinlosigkeit schaffen Probleme. Bereits jetzt sei bekannt, dass sich viele Soldaten weigern würden, in ihre Heimat zurückzukehren.

[De] M[aizière] bezeichnet die deutsche Vereinigung als Chance für die Deutschen, endlich die Trümmer eines falschen Systems auszuräumen. Die DDR liege nicht nur wirtschaftlich-politisch als Ruine da, sondern auch kulturell-mental. Gerade die geistigen Deformierungen seien gewaltig. Deren Behebung brauche Zeit. Die schweizerische Seite empfiehlt dazu vor allem auch Kontakte unter Bildungsinstitutionen, Wissenschaftlern und Künstlern.9 Mittel- bis langfristig sieht [de] M[aizière] grossen Bedarf an Mitteln zur Bereitstellung einer wirtschaftlichen Basis. Der technologische Rückstand sei erheblich, und es gehe nun darum, den Gesundungsprozess nicht allein eine innerdeutsche Angelegenheit sein zu lassen. Besonderes Gewicht legt [de] M[aizière] dabei auf die Wiederherstellung eines funktionierenden Kleingewerbes und Mittelstandes, wo ihm Berufskontakte mit schweizerischen Kreisen als wichtig erscheinen. Föderalismuserfahrung und Gemeindeverwaltung seien ebenfalls unbekannte Grössen, und er bittet die Schweiz, hier hilfreich zur Seite zu stehen. BRF [Bundesrat Felber] betont seinerseits, dass die regionale Zusammenarbeit zwischen Kantonen und den neuen 5 Ländern der DDR wichtig sei. In allen gesellschaftlichen Bereichen müssten nun die Kontakte intensiviert werden.

Im bilateralen Bereich sind keine Probleme zu vertiefen. Die Frage nach der Fortführung der mit der DDR abgeschlossenen Verträge wird mit der BRD in jedem Einzelfalle zu prüfen sein.10 BRF [Bundesrat Felber] betont, dass die Anmeldefrist für Vermögensansprüche zu kurz sei und dass die Schweiz diese Frist (13.10.90)11 nicht als verwirkend betrachte, da die Ansprüche früher bereits bei anderen Stellen geltend gemacht werden seien.12 [De] M[aizière] zeigt Verständnis und meint, die Wiedereinsetzung der Rechte werde auch bei zu später Anmeldung nicht gefährdet. Die kurze Frist sei vor allem deshalb gesetzt worden, um eine baldige Rechtsklärung herbeizuführen.

1
CH-BAR#E2010A#1999/250#5979* (B.31.0). Diese Notiz wurde höchstwahrscheinlich von Emanuel Jenni von der Politischen Abteilung I des EDA verfasst und im Wochentelex 38/90 vom 17. September 1990 abgedruckt, dodis.ch/55159. Neben Jenni nahmen an den Gesprächen mit Lothar de Maizière der Vorsteher des EDA, Bundesrat René Felber, der stv. Direktor der Politischen Direktion, Botschafter Jenö Staehelin, der Delegierte des Bundesrats für Handelsverträge, Botschafter Silvio Arioli, der Chef des Politischen Sekretariats, Botschafter Guy Ducrey, der schweizerische Botschafter in Berlin (DDR), Franz Birrer, Presse- und Informationschef Michel Pache, sowie der diplomatische Sekretär des Vorstehers des EDA, Pierre Combernous, teil. Der Botschafter der DDR in Bern, Arnold Tschirlich, wurde nicht zum Gespräch eingeladen, da das EDA im Vorfeld des Besuchs erfahren hatte, dass de Maizière bei seinen Auslandsbesuchen, «die jeweiligen DDR-Botschaften nicht involviert wissen möchte», vgl. dodis.ch/56491.
2
Für eine Einschätzung der Investitionsmöglichkeiten in der DDR vgl. dodis.ch/55316.
3
Für den Toast von Bundespräsident Arnold Koller vgl. dodis.ch/56550.
4
Auch die Reaktionen des EDA und der schweizerischen Botschaft in Bonn auf die Wiedervereinigung waren positiv, vgl. dazu DDS 1990, Dok 43, dodis.ch/56427 und Dok. 44, dodis.ch/56631 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1739.
5
Im Gegensatz dazu beklagte der scheidende Botschafter der DDR in Bern, Arnold Tschirlich, in einem Schreiben an Bundesrat Felber vom 2. Oktober 1990, dodis.ch/55345, den Diplomaten der ehemaligen DDR würde «kaum eine Möglichkeit geboten, mit unserem Wissen und unseren Erfahrungen im diplomatischen Dienst des vereinigten Deutschlands zur Überwindung der Folgen der Spaltung Europas und zu einem neuen europäischen Bewusstsein frei von Diskriminierungen beizutragen».
6
Für eine Analyse der Entwicklungen und Perspektiven der KSZE vgl. DDS 1990, Dok. 34, dodis.ch/56205.
7
Bei der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 erreichte die rechtskonservative Kleinpartei «Die Republikaner» insgesamt 2,1 Prozent der Stimmen, mehrheitlich aus Bayern und Baden-Württemberg. Für eine Einschätzung der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen durch den schweizerischen Botschafter in Bonn, Alfred Hohl, vgl. den Politischen Bericht Nr. 72 vom 5. Dezember 1990, dodis.ch/57087.
8
Zur Situation der Sowjetunion vgl. DDS 1990, Dok. 58, dodis.ch/55430.
9
Für den Kulturaustausch mit der DDR sowie für die wissenschaftliche und bildungspolitische Zusammenarbeit vgl. die Übersicht über die bilateralen Beziehungen Schweiz-DDR, dodis.ch/55342.
10
Zu den Rechtsproblemen im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung vgl. dodis.ch/55346.
11
Am 15. August 1990 entschied die Regierung derDDR die Anmeldefrist für Vermögensansprüche vom 31. Januar 1991auf den 13. Oktober 1990 vorzuverlegen, vgl. die Antwort des Bundesrats auf die Einfache Anfrage 90.1100 Vermögensverluste von Schweizern in der DDR von Nationalrat Hans-Ulrich Graf vom 20. Juni 1990, Amtl. Bull. NR, 1990, IV, S. 1982.
12
Die 1975 wiederaufgenommenen Entschädigungsverhandlungen mit der DDR über nationalisiertes schweizerisches Eigentum gelangten bis 1990 nicht zu einem Abschluss, vgl. dodis.ch/56428 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1868.