dodis.ch/55182Gespräche des Bundespräsidenten sowie der Bundesräte Delamuraz, Felber, Villiger und Ogi mit der britischen Premierministerin Thatcher am 20. September 19901

Offizieller Besuch der britischen Premierministerin Margaret Thatcher (T) in Bern, 20./21. September 1990

Unter Leitung von Bundespräsident Koller (K) und im Beisein der Bundesräte Delamuraz (D), Felber (BRF), Ogi und Villiger fanden am 20. September politische Gespräche statt. Im Zentrum standen dabei die europäische Integration, die Golfkrise und der Beitritt der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen.

1. Europäische Integration2

K[oller] betont einleitend die Wichtigkeit eines fairen EWR-Abkommens für die Schweiz, das uns im Mitbestimmungsbereich und bei den Ausnahmen etwas bringe, wobei letztere allerdings auf ein Minimum zu beschränken seien. K[oller] legt Wert darauf, dass der EWR ein wichtiger Baustein der neuen gesamteuropäischen Architektur sei und pragmatisch auch osteuropäische Länder aufnehmen könne. D[elamuraz] seinerseits unterstreicht die für die EFTA-Länder unakzeptable Steigerung der Forderungen der EG: – Präsident Delors habe zunächst von gemeinsamen Entscheiden gesprochen, nun sei nichts mehr davon zu hören, und die zweijährige Übergangszeit zur Übernahme des acquis communautaire sei zu kurz.3 Im Übrigen habe man das Gefühl, die EG sei durch ihre Aussenpolitik gegen Osten und ihre inneren Strukturfragen so absorbiert, dass weder Zeit noch Kraft bestünden, sich mit den EWR-Verhandlungen richtig zu befassen.4

T[hatcher] nimmt zunächst mit Befriedigung Kenntnis von der aktiveren Rolle der Schweiz in der internationalen Gemeinschaft. In Bezug auf die EWR-Verhandlungen bleibt sie unmissverständlich: ohne volle EG-Mitgliedschaft könne keine Mitentscheidung erreicht werden,5 und sie fragt sich, warum eigentlich die Neutralität ein Hinderungsgrund für einen Beitritt zur EG darstelle; das neutrale Irland sei auch dabei, und Österreich hätte einen Beitrittsantrag gestellt, ganz zu schweigen von den Diskussionen in Schweden.6 Die zur Übernahme des acquis communautaire vorgesehenen 2 Jahre seien in der Tat sehr kurz, – T[hatcher]umging dabei geschickt den schweizerischen Vorbehalt, die Frist sei zu kurz – und es sei an den EFTA-Ländern, sorgfältig zu prüfen, was sie übernehmen könnten. In jedem Fall müsse man sich bewusst sein, dass das bisher ausgestaltete EG-Recht und die Direktiven in sich bereits ausgehandelte Kompromisse darstellen.

Nach diesen für die Schweiz nicht sehr ermutigenden Bemerkungen tönten die weiteren Ausführungen von T[hatcher] weit weniger EG- oder kommissionsfreundlich. T[hatcher] entwickelte resp. wiederholte ihre bekannte Integrationsphilosophie, diese mit verschiedenen Beispielen untermauernd:

Die EG resp. die Kommission versuche, ihre Kompetenzen in immer mehr Gebieten auszudehnen, dies unter Druck der ärmeren Mitgliedländer. Diesem Trend sei entgegenzuwirken. Wie komme ein nicht vom Volk gewähltes Gremium wie die Kommission, die mächtigste nicht gewählte Institution in der westlichen Welt, dazu, ihre Macht immer mehr auszuweiten? Europa muss eine Gemeinschaft der Nationen werden, wo die Beschlüsse des Ministerrates in den Ländern nach jeweiligem Landesrecht durchzuführen seien.7 Firmenübernahmen z. B. gehörten nicht in die Hände der Kommission, ebensowenig die Sozialgesetzgebung, weshalb Grossbritannien der EG-Sozialcharta seine Zusage verweigert habe. Um zu verhindern, dass ihren Vorstellungen zuwiderlaufende Entwicklungen in der EG eintreten, macht T[hatcher] sich auch für das strikte Einstimmigkeitsprinzip stark. Im Übrigen greift T[hatcher] die verschiedenen in den EG-Ländern praktizierten Industriesubventionen an, besonders in Frankreich, und wehrt sich gegen die Wirtschafts- und Währungsunion; das Aufgeben der nationalen Geld- und Steuerpolitik mache aus Europa nicht etwa den Gemeinsamen Markt, sondern den Einheitsmarkt. Die Menschen brauchen immer einen nationalen Bezug, eine kleinere Einheit, ein Gegenstück zu undemokratischen und nicht einmal gewählten Zentralinstitutionen.

Mit Blick auf die von der EG angestrebte Politische Union meint T[hatcher], das heutige System der EG eigne sich nicht dafür. Für eine politische Union bräuchte die Gemeinschaft die Souveränität. Diese sei aber dort nicht vorhanden, sondern verbleibe in den Mitgliedländern.

2. Golfkrise8

K[oller] und BRF [Bundesrat Felber]skizzieren die schweizerische Haltung in der Golfkrise und betten sie in die Neutralitätspolitik ein. Dabei betont K[oller] den Unterschied zwischen Neutralitätsrecht, das die Schweiz strikt anzuwenden gedenke, da es das Herzstück dessen darstellt, was das Volk nie aufgeben würde. Im Gegensatz dazu stehe die Neutralitätspolitik, die je nach den politischen Entwicklungen flexibel zu handhaben sei.9 BRF[Bundesrat Felber] informiert über die Initiative des irakischen Botschafters,10 wonach die Schweiz als Übermittlungsland für Nachrichten Gute Dienste leisten könne. Es werde abgeklärt, ob es sich um eine persönliche Idee des Botschafters handle oder um einen offiziellen Vorschlag seiner Regierung. Die Schweiz habe ihm keinerlei Zusagen gemacht.

T[hatcher] beglückwünscht zunächst den Bundesrat zu seiner Sanktionspolitik und erläutert dann die historisch und politisch völlig ungerechtfertigten Forderungen des Irak. Für sie gibt es an den UNO-Resolutionen nichts zu deuten, und es bestehe keinerlei Notwendigkeit, mit Saddam Hussein zu diskutieren. Insofern sei die Fernsehbotschaft des US-Präsidenten an das irakische Volk ein Fehler gewesen.11 Eine arabische Lösung der Krise käme nicht in Frage, es handle sich um ein Weltproblem, das auf breiter Front angegangen werde müsse. T[hatcher] hält die militärische Option vollständig für möglich. Es müsse verhindert werden, dass Irak in wenigen Jahren zur Atombombe komme: «We have to be prepared to everything.» Eine gewaltsame Befreiung von Kuwait durch einen Angriff auf den Irak sei gemäss Art. 51 der UNO-Charta möglich, wenn der Emir12 ein formelles Hilfegesuch stelle. Es sei zu vermeiden, dass für einen solchen Schritt erneut der Sicherheitsrat gemäss Art. 42 angerufen werden müsse, um ein eventuelles chinesisches Veto zu verhindern.

In Bezug auf die Sanktionen scheint für T[hatcher] vor allem das Ölembargo Wirkung zu zeitigen. Trotz der medienwirksam ausgeschlachteten angeblich ersten Versorgungsengpässe im Lebensmittelsektor vertritt T[hatcher] die Auffassung, der Irak habe für eine längere Zeit genügend Vorräte gehortet. Um die immer noch offenen Löcher zu stopfen, sei ein Luftverkehrs-Embargo dringend einzuführen. Vor allem die Nachbarländer des Irak müssten mit einer Resolution dazu gebracht werden, analog zur Seeblockade alle Flugzeuge zur Landung und Inspektion zu zwingen.

In einem Ausblick auf die Zeit nach der Lösung der Golfkrise betont T[hatcher] die Notwendigkeit, den arabisch-israelischen Konflikt erneut anzugehen.13 Um die Chancen zu einem dannzumaligen Erfolg zu erhöhen, tue Grossbritannien alles, um Israel in der jetzigen Krise zur völligen Zurückhaltung zu bringen.

Eine Aufstellung einer regionalen Sicherheitsarmee sei notwendig, zusammengesetzt aus Truppen der Länder in der Region selber, wobei die Präsenz «westlicher» Truppen nur auf spezielles Ersuchen einzelner Länder tolerierbar sei. Jedenfalls werde der Nahe Osten in absehbarer Zukunft ein anderes Gesicht als heute haben.

3. Beitritt der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen14

Das Fehlen von bilateralen Problemen im engeren Sinne machte das Thema des Beitritts der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen zur einzigen Frage, die zwischenstaatlich einer Erörterung bedurfte. Das schweizerische Begehren nach 2,1 Mrd. Sonderziehungsrechten und einem Sitz im Direktorium stiess vor 10 Tagen vor allem beim britischen Delegierten15 auf Unverständnis, dies im Kontrast zu den früheren sehr positiven Äusserungen Frau Thatchers in dieser Hinsicht und zur am Gespräch in Bern wiederholten Freude am schweizerischen Gesuch.16

T[hatcher] hatte keine Kenntnis von der Haltung ihres Delegierten, der anscheinend vom Schatzamt entsprechend instruiert worden war. Sie versprach, sich der Sache anzunehmen und liess durchblicken, sie sei durchaus dafür, dass die Schweiz einen Sitz im Direktorium erhalte. (Eine Frage, die mit einem genügend hohen Anteil an Sonderziehungsrechten verknüpft ist.)

1
CH-BAR#E2010A#1999/250#4159* (B.15.21(20)). Diese Notiz wurde von Emanuel Jenni vom Dienst Bilaterale Angelegenheiten der Politischen Abteilung I des EDA verfasst. Die vorliegende Version wurde als Punkt 1 (rapides) und Punkt 2 im Wochentelex 39/90 vom 24. September 1990 versendet, dodis.ch/55160.
2
Zu den Verhandlungen über ein Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vgl. DDS 1990, Dok. 8, dodis.ch/54934; Dok. 16, dodis.ch/54605; Dok. 23, dodis.ch/55262; Dok. 28, dodis.ch/55291 sowie Dok. 52, dodis.ch/55288.
3
Vgl. dazu die Notiz des schweizerischen Botschafters bei der EG in Brüssel, Benedikt von Tscharner, über den Besuch des Vorstehers des EVD, Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz, in Brüssel, am 17. Juli 1990, dodis.ch/55746 sowie die Notiz des Direktors des BAWI, Staatssekretär Franz Blankart, an Bundesrat Delamuraz vom 20. August 1990 über seine Gespräche mit Horst Krenzler, dem Verhandlungschef der EG für den EWR-Vertrag, dodis.ch/55368.
4
Vgl. dazu auch die Überlegungen von Botschafter von Tscharner, DDS 1990, Dok. 28, dodis.ch/55291.
5
Zum Mitentscheidungsrecht in den Verhandlungen mit den EG, vgl. das Wochentelex 4/90 vom 22. Januar 1990, dodis.ch/55105, Punkt 2; die Notiz vom 18. Februar 1990 von Staatsekretär Blankart an Bundesrat Delamuraz, dodis.ch/55204; und die Notiz vom 30. August von Sektionschef Marc-André Salamin vom Integrationsbüro EDA–EVD, dodis.ch/55740. Zu den institutionellen Aspekten der Verhandlungen vgl. dodis.ch/C1886.
6
Zur europäischen Integration als Herausforderung für die Schweizer Neutralität vgl. DDS 1990, Dok. 24, dodis.ch/54523, Punkt 3.
7
Vgl. dazu auch die Ausführungen von Premierministerin Thatcher anlässlich des Besuchs von Bundesrat Delamuraz in London im Oktober 1990, dodis.ch/55821.
8
Vgl. DDS 1990, Dok. 60, dodis.ch/55703 sowie die thematische Zusammenstellung Golfkrise (1990–1991) dodis.ch/T1673.
9
Im August 1990 beteiligte sich die Schweiz mit den gegenüber Irak und Kuwait erlassenen Wirtschaftsmassnahmen erstmals überhaupt an einem Sanktionsregime der UNO. Vgl. dazu DDS 1990, Dok. 29, dodis.ch/55715 und Dok. 30, dodis.ch/54497 sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1674. Zur sich wandelnden Bedeutung der Neutralität als aussenpolitische Maxime der Schweiz vgl. DDS 1990, Dok. 24, dodis.ch/54523.
10
Abdo Ali Hamdan Al-Dairi.
11
Saddam Hussein hatte George Bush die Möglichkeit geboten, sich an das irakische Volk zu wenden. In einer Fernsehansprache, die am 16. September 1990 vom irakischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, erläuterte der US-Präsident die Reaktionen auf die Invasion Kuwaits.
12
Jaber Al-Ahmad Al-Sabah.
13
Zur schweizerischen Haltung zum Nahostkonflikt vgl. DDS 1990, Dok. 47, dodis.ch/55025.
14
Vgl. DDS 1990, Dok. 1, dodis.ch/54926 und Dok. 13, dodis.ch/54922.
15
Robin Leigh-Pemberton.Vgl. dazu dodis.ch/56997.
16
Vgl. dazu auch dodis.ch/55821.