dodis.ch/54148  Der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements, E. von Steiger, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1

Mit Schreiben vom 22. Mai 19462 legten Sie uns die Frage vor, durch welchen Rechtsakt die Auflösung des Völkerbundes intern rechtlich festgelegt werden soll. Insbesondere frägt es sich, ob es genüge, wenn der Bundesrat den beiden Räten einen Bericht über die 21. Sitzung der Völkerbundsversammlung zur Genehmigung unterbreite3.

Wir beehren uns, Ihnen hierzu folgendes mitzuteilen.

Wir setzen voraus, dass die Auflösung des Völkerbundes heute eine vollendete Tatsache ist, an der nichts mehr geändert werden kann. Trotzdem dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass der Bundesrat den Räten auch über diese Sitzung und ihr Ergebnis Bericht zu erstatten hat, und dass die Räte dazu Stellung nehmen können. Eine andere Frage ist es hingegen, ob der Bundesrat noch etwas weiteres zu unternehmen hat. Diesbezüglich ist auf folgendes hinzuweisen.

Der Bundesbeschluss vom 5. März 1920 betreffend den Beitritt zum Völkerbund (AS 36, S. 651) bestimmt unter Ziff. I:

«Für die Ratifikation der Abänderungen des Völkerbundsvertrages kommen die von der Bundesverfassung für den Erlass von Bundesgesetzen aufgestellten Bestimmungen zur Anwendung.

Beschlüsse über Kündigung des Völkerbundsvertrages oder über Rücktritt von diesem sind dem Volk und den Ständen zur Abstimmung vorzulegen.»

Bezüglich eines Auflösungsbeschlusses enthält der Bundesbeschluss jedoch keine Vorschriften, wie ja auch der Völkerbundspakt selbst darüber schweigt. Es erhebt sich daher die Frage, ob eine dieser Vorschriften auch für einen Auflösungsbeschluss Geltung hat und gegebenfalls, ob heute noch etwas zu unternehmen ist.

Hinsichtlich des letzteren Punktes ist folgendes zu beachten. Nach Ziff. I, Abs. 2, sind Beschlüsse über Kündigung des Völkerbundsvertrages und über Rücktritt von diesem dem Volk und den Ständen zur Abstimmung vorzulegen. Unter Kündigung verstand man damals speziell die in Art. I, Abs. 3, des Paktes vorgesehene zweijährige Kündigung, und mit dem Worte «Rücktritt» wollte man den in Art. 26 vorgesehenen Fall berücksichtigen, dass es einem Staat zwar frei steht, eine beschlossene Abänderung des Paktes nicht anzunehmen, dass er aber in diesem Falle aufhört, Mitglied des Völkerbundes zu sein (vgl. Botschaft vom 4. August 19194, S. 91 u[nd] 93, sowie bezüglich der im Jahre 1921 beschlossenen, aber u.W. nicht in Kraft getretenen Abänderung: BBl 1922 I 20, AS 41:192 ff.). Trotzdem kann man sich fragen, ob diese Vorschriften nicht auch Geltung haben sollten für die Zustimmung zu einem Auflösungsantrag oder gar für die Stellung eines solchen Antrages. Aber selbst wenn man dies bejahen wollte, wäre heute, nachdem der Völkerbund aufgelöst ist, eine Bestimmung des Volkes und der Stände über die Frage, ob die schweizerischen Delegierten dem Auflösungsantrag hätten zustimmen sollen oder nicht, zwecklos. Denn es soll mit ihr nur über eine Ermächtigung entschieden werden, nicht über eine nachträgliche Ratifizierung des gefassten Beschlusses. Eine Ermächtigung kommt aber nicht mehr in Frage, da über diesen Gegenstand nicht mehr abgestimmt wird.

Man könnte auch daran denken, die Vorschriften über die Abänderungen des Völkerbundsvertrages auf den Auflösungsbeschluss anzuwenden. In diesem Falle würde sich folgende Rechtslage ergeben. Für die Zustimmung zu einem bezüglichen Antrage wäre der Bundesrat zweifellos zuständig gewesen. Hätte man den gefassten Beschluss nachher ratifizieren wollen, so wäre hierfür gemäss Ziff. I, Abs. 1, des Bundesbeschlusses die Form eines Bundesgesetzes notwendig gewesen, das dem Referendum unterstellt gewesen wäre. Die Ratifizierung könnte wohl heute noch vorgenommen werden, vorausgesetzt, dass der Auflösungsbeschluss unter Ratifikationsvorbehalt gefasst worden ist. Nachdem aber feststeht, dass der Völkerbund aufgelöst ist, hätte sie wohl keinen guten Sinn mehr. Denn die Auflösung besteht auch jenen Mitgliedstaaten gegenüber zu Recht, welche den Beschluss nicht ratifiziert haben. Ebenso wenig kommt eine Abstimmung des Volkes und der Stände zu diesem «Abänderungsbeschluss» in Frage. Denn gemäss Ziff. I, Abs. 2, des Bundesbeschlusses ist eine solche nur nötig für die Geltendmachung des sog. Rücktrittes, d.h. wenn ein Mitgliedstaat die Änderung des Paktes nicht gegen sich will gelten lassen und es vorzieht, aus dem Völkerbund auszuscheiden.

Wir gelangen also in Übereinstimmung mit Ihnen – wenn auch auf anderem Wege – zum Ergebnis, dass der Bundesrat lediglich den beiden Räten Bericht zu erstatten hat, damit sie Gelegenheit erhalten, sich dazu zu äussern und Beschluss zu fassen. Der Erlass eines Bundesgesetzes oder gar eine Abstimmung des Volkes und der Stände fällt u.E. selbst dann ausser Betracht, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, dass Ziff. I des Bundesbeschlusses auch für einen Auflösungsbeschluss grundsätzlich Geltung habe. Von der Prüfung der weiteren Frage, ob der Bundesrat befugt gewesen sei, der Delegation die Instruktion zu geben, dem Auflösungsantrag zuzustimmen, kann wohl abgesehen werden, nachdem festzustehen scheint, dass die gegenteilige Haltung zu keinem andern Ergebnis geführt hätte.

1
Schreiben: CH-BAR#E2001D#1000/1554#915* (E.13.44), dodis.ch/54148.
2
CH-BAR#E4110A#1000/1831#1309* (F.04).
3
Bericht des Bundesrates über die XXI. Session der Völkerbundsversammlung vom 19. August 1946, dodis.ch/2055.
4
Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund vom 4. August 1919, dodis.ch/8912.