dodis.ch/54142  Notiz des Sekretärs der Abteilung für Auswärtiges des Politischen Departements, F. J. Borsinger1

Lord Acton telephonierte gestern und wünschte mit Herrn Cramer zu reden. Auf meine Rückäusserung, Herr Cramer sei drei Wochen abwesend, teilte er mir mit, dass er mit ihm sprechen wollte, doch könne er auch mir die betreffende Mitteilung machen, und wäre er mir dankbar, wenn ich auf meinem Heimwege bei ihm vorbei kommen könnte.

Gegen sieben Uhr sprach ich an der Seminarstrasse vor, und eröffnete mir Lord Acton, dass er soeben eine Mitteilung aus Paris erhalten habe, die er in «a friendly way» mündlich weitergeben solle; da Herr Cramer ein alter Freund von ihm sei, so habe er es, dem Charakter des Auftrages entsprechend, als am geeignetsten erachtet, ihm diese Mitteilung zu machen; in seiner Abwesenheit jedoch bitte er mich, sie entgegenzunehmen.

Die Stellungnahme der deutschen Schweiz zum Völkerbund und zu den Friedensbedingungen erwecke grosses Aufsehen bei den massgebenden Persönlichkeiten in Paris und frage man sich, ob die Schweiz sich der Konsequenzen wirklich bewusst sei, die daraus resultieren könnten. Der Sitz des Völkerbundes würde nicht unwahrscheinlich verlegt werden, wenn die Schweiz dem Bunde nicht beitrete, und die internationalen Bureaux, deren Sitz sie bis zur Zeit sei, würden gleichfalls anderwärts verlegt werden müssen.

Ich antwortete, dass sowohl das Volk wie die Behörden sich des Obigen voll bewusst seien und dass bei den Beratungen, welche zur Zeit gepflogen werden, keiner der obigen Punkte aus dem Auge gelassen werde. Lord Acton sagte darauf, dass in den telegraphischen Instruktionen, die er erhalten habe, auch erwähnt sei, die Rotkreuz-Institutionen «the Red Cross Institutions» würden voraussichtlich mit den internationalen Bureaux gleichbehandelt und glaube er, obwohl der Ausdruck zweideutig sei, dass damit das internationale Rote Kreuz gemeint sei. Ich drückte ihm mein Erstaunen aus, dass englischerseits uns eine solche Mitteilung gemacht werde und fragte ihn, ob damit eine Drohung oder ein Druck bezweckt sei, was er sofort kategorisch verneinte und damit erklärte, seine Regierung wünsche lediglich, dass keine Missverständnisse und keine Unklarheiten bestehen bleiben beim endgültigen Entscheid, den die Schweiz zu treffen haben werde.

Lord Acton kam darauf auf die Gründe zu sprechen, welche die deutsche Schweiz zu einer so grossen Reserve dem Völkerbunde gegenüber und die Friedensbedingungen betreffend, zu zwingen scheinen: Die Entente sei uns doch unsere Neutralität betreffend entgegengekommen und habe durch die Friedensbedingungen kleine Staaten geschaffen, deren Existenz uns doch sicher nicht unangenehm sein könne. Ich entgegnete, dass, was unsere Neutralität anbetreffe, der Unterschied zwischen militärischer und ökonomischer Neutralität im Volke nicht verstanden werde und frug ihn, ob es ihm persönlich möglich sei, diese beiden Begriffe auseinander zu halten. Er gab zu, dass in Anbetracht der Erfahrungen während des Krieges dies ihm schwierig werde und wies ich ihn darauf hin, dass diese Sache uns um so mehr beschäftige, da im Friedensvertrage von 1815 die ökonomische Neutralität so gut wie die militärische gewährleistet und gefordert worden war. Was sodann die Friedensbedingungen betreffe, so sei das ganze Schweizervolk mit der Gründung oder dem Wiedererstehen kleinerer Nationen gewiss einverstanden, was auch durch die Anerkennung der tschechoslowakischen und polnischen Republiken offiziell dargetan worden sei. Er gab das zu, kam jedoch auf die Stellungnahme der Schweiz zum Frieden im allgemeinen zu sprechen und äusserte sich dahin, dass die grosse Enttäuschung, welche in unserem Volke beim Waffenstillstandsabschluss bemerkt worden war, bei den Alliierten den Verdacht rechtfertige, dass der Ausgang des Krieges den Wünschen der Grosszahl des Schweizervolkes nicht entsprochen habe. Ich erwiderte, dass die im November zweifelsohne zur Schau getragene Niedergeschlagenheit mit unserer innenpolitischen Lage zusammenhing, die uns notgedrungen mehr beschäftigte als das, was im Auslande zur gleichen Zeit vorging und die viel Leid im Volke zur Folge hatte, da, wie ihm wohl bekannt sei, die wegen des Streiks aufgebotenen Truppen von einer nie gesehenen Grippe-Epidemie heimgesucht worden sind. Acton gab dies zu, erwiderte jedoch, dass ihm scheine, gegen die nunmehrige Unzufriedenheit könnten solche Entschuldigungen nicht angeführt werden. Ich sagte darauf, dass ich persönlich finde, die Friedensbedingungen, welche Deutschland gestellt worden seien, habe letzteres entschieden verdient, doch seien sie unpolitisch, da sie zweifelsohne neue Konflikte heraufzubeschwören drohen, und wisse ich, dass viele meiner Landsleute diese Auffassung der Lage teilen; dass unter diesen Umständen kein grosser Enthusiasmus aufkommen könne, sei wohl selbstverständlich, da gerade die Freunde der Entente und das Volk im allgemeinen gehofft hatten, der Krieg werde in einer Weise endigen, die weitere Konflikte ausschliesse.

Lord Acton gab zu, dass die Spannung zwischen Italien und den Süd-Slaven eine gewisse Beunruhigung rechtfertigen dürfte und dass auch weitere Reibungspunkte bestehen, wie z.B. die Frage des Deutsch-Südtirols. Er begreife auch, dass letzteres uns näher liege, indem das Festlegen des Alpenkammes als natürliche Grenze zwischen Deutsch-Österreich und Italien uns beschäftigen müsse. Ich verwies ihn darauf, dass die Österreich auferlegten Bedingungen gleichfalls keinen Enthusiasmus bei uns aufkommen lassen können, wenn man bedenke, dass dieselben einen zukünftigen Anschluss von Deutsch-Österreich an Süddeutschland fast zweifellos erscheinen lassen, was die Hälfte unserer Landesgrenzen ein und demselben mächtigen Nachbar gegenüberstellen würde. Acton behauptete, dass dieses anscheinende Übergewicht durch ein nun mächtiges Frankreich aufgehoben werde, er begreife jedoch, dass in diesem Lichte betrachtet, die Vorarlberger Frage für uns von grosser Wichtigkeit sei und deren Behandlung im Friedensvertrage von uns empfunden werde.

Er erkundigte sich noch über das Vorgehen unserer Behörden in der Völkerbundsfrage und ob es unerlässlich sei, dass das Volk sich darüber auszusprechen habe. Ich erklärte ihm als selbstverständlich, dass dies zu geschehen habe und ersuchte er mich, zuständigen Ortes über das oben erwähnte Telegramm zu sprechen und besonders darauf hinzuweisen, dass Mr. Balfour dasselbe direkt aus Paris an ihn gerichtet habe und dass irgendeine Folge, welche ihm gegeben werden sollte, durch ihn, Acton, gehen sollte und nicht durch Herrn Carlin und Lord Curzon. Er betonte noch einmal «the friendly character» seiner Mitteilung und konnte ich mich des Eindrucks nicht verwehren, dass es der Entente sehr ungelegen kommt, dass wir dem Völkerbund mit Reserve begegnen, indem dies die moralische Wirkung desselben mehr präjudizieren dürfte als ihr angenehm ist.

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Notiz (Kopie): CH-BAR#E2001B#1000/1508#222* (B.56.41.15.12), DDS, Bd. 7-II, Dok. 4, dodis.ch/44215, Anhang.