dodis.ch/52281Politscher Bericht1 des schweizerischen Botschafters in Bonn, Alfred Hohl2

Nr. 38. Die Wiedervereinigung und die Blockzugehörigkeit

Vertraulich

In Europa spielen sich gegenwärtig drei grundlegende Prozesse von historischer Tragweite ab:

– Die (west-)europäische Integration innerhalb der EG dem Ziel einer europäischen Union.

– Die Auflösung des Ostblocks und die damit verbundene Eliminierung der sicherheitspolitischen Bipolarität in Europa,

– Die deutsche Wiedervereinigung

Die drei Prozesse sind untrennbar miteinander verbunden. Besonders aktuell und intensiv sind indessen Wechselwirkung und Kausalität der beiden Letzgenannten. Das Dilemma lässt sich einfach formulieren:

Die innerdeutsche Entwicklung hat eine Dynamik erreicht, welcher die Schaffung neuer gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen, welche die Bipolarität ablösen sollen, nicht zu folgen vermag.

Ausweg:

a) Entweder wird der Wiedervereinigungsprozess gebremst und an das im Rahmen von Helsinki II , bzw. Wien II Realisierbare angepasst, oder

b) der Bau des neuen europäischen Hauses wird der Rasanz des Wiedervereinigungsprozesses angeglichen, oder

c) man akzeptiert das Faktum, dass die beiden Prozesse zeitlich nicht koordinierbar sind.

Es hiesse, die Dynamik politischer Entwicklungen auf unstatthafte Art zu kategorisieren, wollte man nur die eine von drei logisch denkbaren Entwicklungen als wahrscheinlich prognostizieren.

Realistischer ist es, von einem Gemenge der drei Optionen auszugehen.

– Sicherlich bremst die bis anhin ungelöste Frage der Blockzugehörigkeiten den Wiedervereinigungsprozess. Die Herstellung staatlicher Einheit bei gleichzeitiger zweifacher Blockzugehörigkeit und der Präsenz amerikanischer und sowjetischer Truppen ist unrealistisch, weil in sich widersprüchlich. Gegenteilige Beteuerungen – auch aus der Koalition – sind eher als «window dressing» und «appeasement» für die Sorgen der Blockprotagonisten aufzufassen.

– Nicht zu verneinen ist, dass die deutsche Entwicklung Druck für die Schaffung neuer europäischer Sicherheitsstrukturen schafft. Sie setzt Helsinki II und Wien II unter Erfolgszwang.

– Schliesslich enthält die Entwicklung sicher auch aleatorische Elemente. Raum dafür bieten unter anderem auch die Unsicherheiten in der Sowjetunion. Hätte sie beispielsweise die Kraft und den Willen einem Abdrängen aus der DDR zu widerstehen? Schliesslich stünde es einer neugewählten DDR-Regierung nach dem 18. März frei, den Austritt aus dem Warschauer Pakt zu erklären. Die auf DDR-Territorium verbleibenden UdSSR-Truppen wären danach nur noch unter dem Titel des Potsdamer Abkommens als Siegermacht präsent, was die Blockzugehörigkeitsproblematik in einem völlig neuen Licht erschienen liesse. So spekulativ zum jetzigen Zeitpunkt eine solche Entwicklung auch sein mag: sie verdient Erwähnung seit in Europa heute Realität ist, was gestern undenkbar war. Die Redimensionierung des sowjetischen Imperiums, die Bewältigung seiner inneren Probleme bedingen Konzessionsbereitschaft insbesondere dort, wo keine direkten und vitalen sicherheitspolitischen Risiken vorliegen. Nachdem das westliche Glacis der UdSSR sich aufzulösen im Begriff ist, dürfte ein längerfristiger Verbleib von Sowjet-Truppen in der DDR eher anachronistischer Symbolik als sicherheitspolitischer Notwendigkeit entsprechen.

Die von Modrow3 mit Segen des Kremls aus der Mottenkiste geholte Idee einer Neutralisierung Gesamtdeutschlands geht an der Realität vorbei.

Ein Staat von der Grösse und Potenz Gesamtdeutschlands kann begrifflich nicht neutral sein, es fehlt ihm das Essentiale der Kleinheit als Voraussetzung des neutral-sein-könnens, die durch seine Grösse bedingten Interessen machen es selber zum sicherheitspolitisch relevanten Akteur im internationalen Kontext. Zudem: Gesamtdeutschland neutral werden zu lassen, hiesse, ihm einen Sonderstatus zuzubilligen, der ihm eine eigenständige, nicht beeinflussbare Politik gegenüber den anderen Mächten ermöglicht. Eine Einbindung in gesamteuropäische Strukturen erhöht die Kontrollierbarkeit gesamtdeutscher Aussenpolitik.

Andere Varianten werden gegenwärtig ebenfalls diskutiert:

– Ein Anschluss der DDR an das NATO-Gebiet ist unrealistisch, da für die UdSSR nicht zumutbar und akzeptabel.

– Eine – vorläufige – Neutralisierung und Entmilitarisierung der DDR dürfte aus denselben Gründen scheitern.

Fazit: Eine Lösung, welche die begriffliche Unvereinbarkeit von Wiedervereinigung und – vorläufiger – Blockzugehörigkeit von BRD und DDR überwinden könnte, ist gegenwärtig nicht in Sicht. Dennoch wird die Wiedervereinigung nicht an diesem Punkt scheitern, sie wird – was den konstitutiven Rahmen betrifft – allenfalls verzögert.

1
Politischer Bericht Nr. 12 und Telegramm Nr. 34 (Empfangskopie): CH-BAR#E2010-02A#1996/400#19* (A.21.31). Verfasst von Jürg Leutert, dodis.ch/P17414.
2
Alfred Hohl (1930–2004), dodis.ch/P16080, schweizerischer Botschafter in Bonn 1.9.1987–16.11.1991.
3
Hans Modrow (*1928), dodis.ch/P54796, Vorsitzender des Ministerrats der DDR 13.11.1989–12.4.1990.