dodis.ch/50616Politischer Bericht des schweizerischen Botschafters in Belgrad, Hans Keller, an den Vorsteher des Politischen Departements, Willy Spühler1

Studentenkrawall auch in Belgrad. Politische Hintergründe

Noch vor wenigen Tagen brüsteten sich die jugoslawischen Kommunisten mit der ruhigen Gelassenheit, mit der die glücklichen und zufriedenen jugoslawischen Völker die Unrast und die Unzufriedenheit im kapitalistischen Westen Europas verfolgen könnten. Inzwischen haben aber auch in den jugoslawischen Hochschulstädten, besonders in Belgrad, Studentenkrawalle stattgefunden, wie sie in diesem Ausmass und in dieser Heftigkeit in Jugoslawien seit der Machtergreifung der Kommunisten noch nie zu verzeichnen waren. Die Brutalität, mit der die Polizei «Ruhe und Ordnung wieder herstellte», und die schweren, teils lebensgefährlichen Verletzungen, die den demonstrierenden Studenten dabei beigefügt wurden, zeigen deutlich, dass es sich um einen Konflikt handelt, wie er gegenwärtig auch die bürgerlichen Staaten West- und Nordeuropas erschüttert, dass also auch ein sozialistischer Diktaturstaat keineswegs gegen solche Generationenkonflikte gefeit ist:

Zur Ergänzung der Nachrichten, die vermutlich auch die schweizerische Presse über diese jugoslawischen Ereignisse publizieren wird, lege ich diesem Bericht noch eine auf Augenzeugenberichten basierende Notiz meines jungen Mitarbeiters Freymond2 bei.

Die Forderungen der Studenten gehen weit über das hinaus, was hiesige Fachleute schon lange auf dem Gebiet der Hochschulreformen verlangt bzw. in Aussicht gestellt haben. Die zahlreichen Kontakte, die die jugoslawischen Hochschüler in den letzten paar Jahren mit ihren Kollegen aus West- und Nordeuropa, sowie aus Übersee in zunehmendem Ausmass pflegen konnten, liessen erkennen, wie rückständig Jugoslawien auf gewissen Gebieten geblieben ist. Besonders aber musste der jungen Generation bewusst werden, wie viel bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen die Hochschüler westlicher Länder geniessen, und wie ungünstig speziell die Zukunftsaussichten der Absolventen hiesiger Universitäten im Vergleich mit den benachbarten bürgerlichen Ländern sind. Während Absolventen «kapitalistischer » Hochschulen heute meist schon vor dem Studienabschluss einen Arbeitsvertrag besitzen, vermehrt sich die Zahl der akademisch gebildeten Arbeitslosen ununterbrochen. Die besten Absolventen gehen dem Lande durch die Auswanderung verloren, in einem Moment, wo man sie zuhause dringend benötigt, aber den Weg zu ihrem rationellen Einsatz nicht findet3.

Neben wirtschaftlichen Motiven sind es aber wahrscheinlich auch solche politischer und psychologischer Natur, die die Eruptionen studentischer Unzufriedenheit erklären lassen.

Die aufmerksamen Beobachter konnten schon seit einiger Zeit Zeichen zunehmender innenpolitischer Gegensätze wahrnehmen. Im «klassenlosen Sozialstaat» Jugoslawien haben sich nämlich Klassengegensätze entwickelt, wie sie in Westeuropa heute kaum mehr toleriert würden. Die Prophezeiungen Djilas’4 sind rascher, als er selbst voraussah, Wirklichkeit geworden. Nicht umsonst üben die Studenten heute so heftige Kritik am Regime, das der von Tito5 protegierten Oberschicht haufenweise materielle und andere Vorteile und Privilegien zuschanzt, während die breiten Volksschichten sich mit sehr bescheidenen Lebensbedingungen abfinden und die Studenten gar in oft menschenunwürdigen Unterkünften vegetieren müssen, die der bescheidenste Fremdarbeiter bei uns ablehnen würde. Dass sich unter solchen Umständen der Ruf nach Bekämpfung der Korruption, nach besserer Verteilung des Volkseinkommens und nach einfacheren Lebensformen auch an der Spitze des Staates (wo in Saus und Braus gelebt wird) ertönt, ist begreiflich. Ob brutale Polizei- und Terrormethoden die gestörte Ruhe an den Hochschulen wieder herstellen kann, will niemand glauben, und hängt wohl weitgehend davon ab, wieweit die Industriearbeiter mit den Studenten gemeinsame Sache machen. Bisher konnten Partei und staatlich dirigierte Gewerkschaften die Arbeiter, allerdings nicht ohne Mühe, davon abhalten, die Studentenrebellion zu unterstützen. Der Kampf ist aber noch nicht zu Ende. Um den Elan der Studenten zu brechen, sind die Hochschulen für eine Woche geschlossen worden. Ferner wurden heute alle Nachrichtenverbindungen mit dem «gefährlichen» Westen unterbrochen.

Bisher haben die Studentenkrawalle über hundert Verletzte gekostet. Ob die Nachricht, es seien auch Menschenleben zu beklagen, stimmt, steht im Moment noch nicht fest. Viele Verletzte sollen von Gewehr- und Pistolenkugeln getroffen worden sein, obwohl die Polizei bestreitet, Schüsse abgegeben zu haben.

1
Politischer Bericht Nr. 6 des schweizerischen Botschafters in Belgrad, Hans Keller, dodis.ch/P184, an den Vorsteher des Politischen Departements, Willy Spühler, dodis.ch/P2111: CH-BAR#E2300-01#1973/156#191* (A.21.31). Handschriftliche Marginalie von Albert Natural, dodis.ch/P2696: Monsieur le Président, intéressant. Visiert von Willy Spühler.
2
Notiz von Bernard Freymond, dodis.ch/P16099, an Hans Keller vom 4. Juni 1968, dodis.ch/50672.
3
Allgemein zur Auswanderung aus Jugoslawien vgl. den Politischen Brief von Guido Lepori, dodis.ch/P2699, an Pierre Micheli, dodis.ch/P86, vom 17. Februar 1966, dodis.ch/31160. Speziell zur Entwicklung der jugoslawischen Arbeitsmigration in die Schweiz vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 109, dodis.ch/30012; DDS, Bd. 23, Dok. 59, dodis.ch/31140; DDS, Bd. 24, Dok. 170, dodis.ch/32381 sowie DDS, Bd. 25, Dok. 143, dodis.ch/35158.
4
Milovan Đilas (1911–1995), dodis.ch/P53819, jugoslawischer Staatsmann und kommunistischer Ideologe. Wurde nach der Veröffentlichung einer kritischen Artikelserie aus der Partei ausgeschlossen und galt als Dissident. Verbreitet wurden seine Thesen durch sein Werk The new class. An analysis of the communist system, New York 1957.
5
Josip Broz Tito (1892–1980), dodis.ch/P1002, jugoslawischer Staatsmann und Politiker, Staatspräsident von 1953 bis 1980 und Chef der Kommunistischen Partei von 1939 bis 1980.