dodis.ch/50615Politischer Bericht des schweizerischen Botschafters in Warschau, Guido Keel1

Polnische Studentenmanifestationen

Während zweier Stunden sprach Gomulka2 gestern abend vor den Warschauer Parteiaktivisten zum Thema der Studentenunruhen3. Zehn Tage hatte es gebraucht, bis der Spitzenfunktionär des hiesigen Regimes zu den aufsehenerregenden Vorfällen Stellung nahm. Der Umstand, dass sich Gomulka persönlich zu diesem Eingreifen entschloss, gibt einen klaren Hinweis auf die ernsthafte Beurteilung der Situation durch die höchsten Parteiorgane.

Zurzeit liegt der Text der Ausführungen Gomulkas nur in polnischer Sprache vor. Die ersten Eindrücke lassen sich dahin zusammenfassen: Der Parteichef bezeigte grosse Strenge bei der Verurteilung der angeblichen «Unruhestifter» und rechnete mit einigen seiner persönlichen Gegner unter den Intellektuellen in drohender Weise ab. Er versuchte hierauf eine Position des Ausgleiches zwischen den extremistischen Tendenzen der letzten Tage zu beziehen, wobei er u. a. die Prüfung berechtigter und in legaler Form vorgebrachter Forderungen der Studentenschaft ankündigte.

Die unmittelbaren Auswirkungen der Rede Gomulkas dürften erst später bekannt werden. Warum aber, muss man sich fragen, wurde diese «Medizin» so spät verabreicht? Warum hat die Partei die manifestierenden Studenten nicht im Anfangsstadium schon mit beschwichtigenden Worten, dafür aber mit brutalen Stockschlägen der Miliz traktieren lassen? Warum wurden Universitätsprofessoren und namhafte Vertreter des polnischen Geisteslebens misshandelt? Warum konnte unter Einsatz aller staatlichen Massenmedien eine üble Diffamierungskampagne und antisemitische Hetze entfacht werden, welche binnen weniger Tage dem Bilde Polens in der übrigen Welt beträchtlichen Schaden zugefügt hat4? Der unvoreingenommene Beobachter kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man den Klärungs- und Beschwichtigungsprozess, den Gomulka mit seiner gestrigen Rede einzuleiten gewillt schien, auch «billiger», d. h. mit weniger Schaden für das Regime und das Prestige Polens hätte haben können.

Der Schluss drängt sich auf, dass die polnische Parteileitung durch die Kundgebungen der Warschauer Studenten und deren Ausbreitung auf die übrigen Universitäten des Landes nicht nur überrascht, sondern erschüttert worden war. Die Vorgänge in der Tschechoslowakei5 müssen auf die hiesigen Kommunistenführer eine schockartige Wirkung ausgelöst haben. Zwar sind die hiesigen Ereignisse nicht als unbedingte Auswirkung der Entwicklung im südlichen Nachbarstaat zu betrachten. Das polnische Regime hatte durch seine unheilvollen Zensur- und Polizeimassnahmen der letzten Zeit genügend Stoff zu einer autonomen Explosion des Unwillens unter Intellektuellen und Studentenschaft geliefert. Dennoch wirken natürlich die tschechoslowakischen Vorgänge bei den einen als Vorbild und Aufmunterung, bei den anderen als Schreckgespenst für analoge Entwicklungen in diesem Land.

So konnte es kommen, dass ein in seiner Tragweite anfänglich begrenztes Vorkommnis, wie die Zensurierung des nationalen Dramas «Die Ahnen» von Mickiewicz6, unabsehbare Folgen nach sich zog. Hätte das Regime die Ereignisse anfänglich im Kompetenzbereich der zuständigen Regierungsstellen belassen (Kulturministerium für das Problem der «Ahnen» und das Ministerium für höhere Erziehung bezüglich der Protestbewegung unter der Studentenschaft), so wäre – bei einigermassen geschicktem Vorgehen – wohl wenig geschehen. Anstatt dessen wurden die zuständigen Ministerien von vorneherein ausgeschaltet. Die Parteileitung riss in hektischer Nervosität die Vorgänge sogleich an sich und interpretierte sie Hals über Kopf als regimefeindliche Aktion. Gewisse Stimmen besagen, dass sogar der für den Einsatz der Polizeikräfte zuständige Innenminister, General Moczar7, nicht zum Zuge gekommen sei. Der überraschende Befehl, die anfänglich friedlich manifestierenden Studenten auf dem Universitätsareal durch Milizverbände «auseinanderknüppeln» zu lassen, soll nicht vom Innenministerium ausgegangen sein, sondern auf höhere Einflüsterung hin vom Warschauer Parteikomitee.

Auch die üble Agitation, die in den nachfolgenden Tagen in der dirigierten Presse und auf eiligst zusammengerufenen Aktivistentreffen einsetzte, wurde ausschliesslich durch die kommunistischen Parteiorgane gesteuert. Dies gilt ebensosehr für die routinemässigen Resolutionen von Fabrikbelegschaften, sowie für die «Massendemonstrationen» von Arbeitern gegen die Studentenschaft unter den Auspizien lokaler Parteisekretäre in Kattowice8, Danzig, Poznan, Krakau und andernorts. Der Name von Regierungspräsident Cyrankiewicz9 trat nur beiläufig in Erscheinung als es galt, einen Vize-Minister und zwei Generaldirektoren ihrer Ämter zu entheben, weil sie Väter manifestierender Studenten waren.

Diese Lage ist charakteristisch für das zurzeit in Polen vorherrschende System. Die Regierung ist selbst auf exekutivem Gebiete zu einem blossen Paravent geworden. In allen wichtigen Fragen und Situationen entscheidet nicht nur, sondern handelt auch weitgehend die Partei. Sie will hierzulande der allein richtunggebende Faktor in Staat und Gemeinschaft bleiben. Ihre massgebenden Leiter sind aber mehrheitlich reaktionäre Dogmatiker, die sich weder durch politisches Geschick noch durch realistisches Beurteilungsvermögen auszeichnen. Die Richtungskämpfe rivalisierender Personen oder Gruppen, die sich – wie in allen kommunistischen Parteien – auch innerhalb des polnischen Zentralkomitees abspielen, haben bisher zu keiner Klärung der Fronten für oder gegen den Gomulka-Kurs geführt. So kann sich auch der Reformdrang – sofern er unter den hiesigen Apparatchiks überhaupt besteht – auf keine breit gelagerte parteiinterne Equipe stützen. Hier liegt ein sehr wesentlicher Unterschied zur Lage in der Tschechoslowakei. Die progressiven Kräfte unter den polnischen Kommunisten stehen noch ausserhalb des leitenden Apparats. Sie vermögen keinen entscheidenden Einfluss auf den politischen Kurs zu nehmen. Die Vorgänge der letzten Tage haben nichtsdestoweniger gezeigt, dass zwischen skleroser Parteispitze und den jungen Elementen eine bedenkliche Kluft besteht. Ein Hauptmerkmal der polnischen Studentenunruhen dürfte sein, in drastischer Weise den tiefen Gegensatz aufgezeigt zu haben, in welchen die Partei zur studentischen Jugend, und damit zu ihrer selbstgezüchteten Nachwuchsgeneration, geraten ist.

1
Politischer Bericht Nr. 5 des schweizerischen Botschafters in Warschau, Guido Keel, dodis.ch/P161: CH-BAR#E2300-01#1973/156#254* (A.21.31). Handschriftliche Marginalie von Albert Natural, dodis.ch/P2696: Monsieur le Président, intéressant. Der Text wurde reproduziert im Bulletin Nr. 13 vom 27. März 1968, CH-BAR#E2001-09#1984/67#3* (B.58.01.4), S. 8–10.
2
Władysław Gomułka (1905–1982), dodis.ch/P18141, polnischer Politiker und Chef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei von 1956 bis 1970.
3
Vgl. dazu das Telegramm Nr. 32 von Guido Keel, vom 12. März 1968, dodis.ch/50685.
4
Vgl. dazu auch DDS, Bd. 24, Dok. 139, dodis.ch/32142.
5
Vgl. dazu Dok. 15, dodis.ch/50753. Für den Einfluss der Ereignisse in Polen und der Tschechoslowakei auf andere Staaten Osteuropas, vgl. zu Ungarn den Politischen Bericht Nr. 4 von Werner Fuchss, dodis.ch/P114, an Willy Spühler, dodis.ch/P2111, vom 27. März 1968, dodis.ch/50869; zur Sowjetunion den Politischen Bericht Nr. 7 von Olivier Exchaquet, dodis.ch/P1216, vom 2. Mai 1968, dodis.ch/50868 und zu Bulgarien den Politischen Bericht Nr. 4 von Lucien Guillaume, dodis.ch/P4263, an Willy Spühler, vom 28. Juni 1968, dodis.ch/50866.
6
Adam Mickiewicz (1798–1855), dodis.ch/P55583: Dziady [Totenfeier]. Wilna/Paris 1823/1832/1860.
7
Mieczysław Moczar (1913–1986), dodis.ch/P48159.
8
Parteisekretär von Katowice war Edward Gierek (1913–2001), dodis.ch/P46565, der 1970 auf Gomułka als Parteichef folgen würde. Vgl. dazu den Politischen Bericht Nr. 1 von Pascal Frochaux, dodis.ch/P5382, vom 7. Januar 1971, dodis.ch/36391.
9
Józef Cyrankiewicz (1911-1989), dodis.ch/P11764.