dodis.ch/47060  Der schweizerische Gesandte in Berlin, H. Frölicher, an den Vorsteher des Politischen Departementes, M. Pilet-Golaz1

Vertraulich2

Mit dem Eintritt Italiens in den Krieg dürfte dessen Endphase begonnen haben. Im Diplomatischen Korps herrscht die Auffassung, dass Frankreich bald den Widerstand aufgeben wird und dass England, sich selbst überlassen, den Widerstand auf der Insel nicht lange mit Erfolg fortsetzen kann. Amerika sei nicht imstande, rechtzeitig diese Entwicklung zu verhindern. An einem Krieg der Kontinente habe die aussereuropäische Welt kein Interesse, namentlich dann, wenn den Westmächten im Friedensdiktat Lebensmöglichkeiten gelassen werden.

Die grosse Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland für lange die entscheidende Kontinentalmacht sein wird und Italien die Mittelmeermacht, muss in unserer Aussenpolitik berücksichtigt werden. Die Schweiz muss sich in ihrer Neutralitätspolitik auf die Freundschaft Deutschlands und Italiens stützen. Bei dem Übergewicht Deutschlands und in Anbetracht der geographischen Lage unseres Landes wäre es falsch, sich an Italien anzulehnen, um sich vor Deutschland zu schützen. Durch eine solche Politik würden nur die offensichtlichen Bemühungen Mussolinis, die Integrität der Schweiz zu erhalten, erschwert. Je rascher es möglich ist, wieder freundschaftliche und vertrauensvolle Beziehungen mit Deutschland herzustellen, desto mehr Aussicht besteht für unsere Sicherheit in dem neuen Europa.

Meines Erachtens sollte die Umstellung auf dem Gebiete der Aussenpolitik damit begonnen werden, dass die Schweiz aus dem Völkerbund austritt. Die Verlegung des Sitzes3 wird sich während der Dauer von zwei Jahren, bis zu welchem Zeitpunkt der Austritt dann wirksam wird, von selbst klären. Der Bundesrat kann heute den Austritt auf Grund der allgemeinen Vollmachten4 beschliessen. Die Geste hat nur einen Wert, wenn sie rasch erfolgt und wenn störende Diskussionen im Parlament und Volk vermieden werden. Sicherlich würde die Massnahme hier richtig verstanden werden und zur Entspannung der deutsch-schweizerischen Beziehungen wesentlich beitragen. Der Entschluss müsste vorher vertraulich in Berlin und Rom zur Kenntnis gebracht werden, damit die Massnahme im richtigen Sinne bei den Achsenmächten gewürdigt wird5.

1
Politischer Bericht Nr. 37: CH-BAR#E2300#1000/716#125* (19), DDS, Bd. 13, Dok. 303, dodis.ch/47060.
2
Handschriftliche Marginalie von M. Pilet-Golaz: Secret. Conférer 14.6.40
3
Vgl. dazu Doss. CH-BAR#E2001D#1000/1554#42* (E.14.6.1).
4
Für die Vollmachten des Bundesrates während des Kriegs, vgl. den Bundesbeschluss über Massnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechthaltung der Neutralität vom 30. August 1939, dodis.ch/8386.
5
Für die Antwort vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 358, dodis.ch/47115.