dodis.ch/45288 Aufzeichnung des Vorstehers des Volkswirtschaftsdepartementes, E. Schulthess1

NOTIZ

Gestern hatte ich Gelegenheit, den belgischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Herrn Vandervelde auf der belgischen Gesandtschaft zu sehen.

Wir sprachen neben anderen Dingen auch von den französischen Tendenzen, den Zolltarif zu revidieren und von der handelspolitischen Lage Belgiens und der Schweiz gegenüber Frankreich2. Der belgische Minister verhehlte nicht, dass seines Erachtens Verhandlungen mit Frankreich sehr schwer sein werden3. Belgien stehe mitten drin. Wie sie endigen werden, sei schwer vorauszusehen. Mit Rücksicht auf eine Mitteilung, die uns von der schweizerischen Gesandtschaft in Paris zugekommen war, frug ich Herrn Vandervelde, wie Belgien vorgehe, ob es zunächst die Vollendung des französischen Zolltarifs abwarte und nachher unterhandle oder ob es vorgängig der parlamentarischen Verabschiedung des französischen Zolltarifs zu einem Abschluss zu kommen suche. Herr Vandervelde erklärte mir, dass seines Erachtens gesucht werden müsste, zu einem Vertrage zu kommen, bevor das französische Parlament den neuen Zolltarif angenommen habe, indem es nachher jedenfalls schwierig sei, Abänderungen zu erreichen.

Nebenbei sei bemerkt, dass Herr Vandervelde die Verhandlungen des Völkerbundsrates in Genf für verhältnismässig befriedigend erklärte, namentlich sei zu begrüssen, dass in der Saar-Frage eine Einigung habe erzielt werden können. Deutschland habe in vernünftiger Weise Konzessionen gemacht. Und begrüssenswert seien auch die Besprechungen zwischen Stresemann und Zaleski, die eine Besserung der deutsch-polnischen Beziehungen erhoffen Hessen.

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J.I.6 1/1.
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In einem Schreiben vom 16.4.1927 an den schweizerischen Gesandten in Brüssel, W. F. Barbey, äusserte sich der Direktor der Handelsabteilung, W. Stucki, zum projektierten französischen Zolltarif folgendermassen: [...] Wir haben von Ihren Mitteilungen mit grösstem Interesse Kenntnis genommen und ersehen aus denselben mit Genugtuung, dass man in Belgien den neuen französischen Tarif ungefähr gleich beurteilt wie hier. Unsere Kreise der Wirtschaft und des Handels betrachten mit vollem Recht den französischen Tarif für sehr viele schweizerische Exportprodukte als durchaus prohibitiv. Wenn nicht die französische Minimalkolonne ausserordentlich stark reduziert wird, so besteht nach hiesiger Ansicht keine Möglichkeit, zu einer Einigung zu gelangen und die Schweiz wäre gezwungen, schärfste Abwehrmassnahmen zu ergreifen. Wir teilen durchaus die Auffassung, dass es bei dieser Situation zweckmässig ist, wenn die verschiedenen hauptsächlich betroffenen Staaten, die nun mit Frankreich in Handelsvertragsunterhandlungen eintreten, unter sich Fühlung nehmen. Herr Bundesrat Schulthess hat dem hiesigen belgischen Gesandten schon vor einiger Zeit den Vorschlag gemacht und er ist zweifellos nach Brüssel mitgeteilt worden. Eine Antwort ist bis jetzt nicht eingetroffen. Wir bitten Sie, uns auch in Zukunft über diese eminent wichtige Frage vollständig auf dem laufenden zu halten (E 7110 1/55). - Vgl. dazu Nr. 308.
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Auch Stucki sah den kommenden Verhandlungen mit Frankreich mit grossen Bedenken entgegen und vertrat die Meinung, dass der französische Zolltarif durch rücksichtslosen Protektionismus gekennzeichnet sei, wie er in einem Schreiben vom 2.4.1927 an die schweizerische Gesandtschaft in Brüssel ausführte (E 7110 1/55).