dodis.ch/45221 Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 8. Juli 19261

1162. Handelsvertragsverhandlungen mit Deutschland

Am 24. Juni hat das Departement über den damaligen Stand der Handelsvertragsverhandlungen mit Deutschland Bericht erstattet, und der Bundesrat hat der schweizerischen Delegation neue Instruktionen erteilt2. Die Verhandlungen sind seither im Sinne dieser Instruktionen weitergeführt worden und können heute als materiell sozusagen abgeschlossen angesehen werden. Selbstverständlich kann es dabei nicht die Meinung haben, als ob nun alle schweizerischen Wünsche in günstiger oder auch nur zufriedenstellender Weise erfüllt worden wären. Wenn von einem Abschluss gesprochen wird, so ist damit bloss gemeint, dass ein Mehreres kaum mehr erlangt werden kann und man sich fragen muss, ob die Unterzeichnung eines Vertrages auf der jetzigen Basis einem vertragslosen Zustand vorzuziehen sei, ob überwiegende Interessen für den Vertrag sprechen.

1. Die deutschen Begehren zum schweizerischen Tarifsind nun vollständig erledigt, indem die Schweiz noch einige in ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Bedeutung geringe Konzessionen gemacht, Deutschland sich in allen ändern Punkten schliesslich zur Annahme unserer früheren Vorschläge entschlossen hat. Besonders hervorzuheben ist, dass die deutsche Delegation angesichts der vom Bundesrat beschlossenen Erhöhung des Rundholzzolles auf ihr Begehren, für ein Grenzkontingent eine Zollherabsetzung auf Brettern aus Nadelholz (Pos. 237) zu erhalten, verzichtet hat. Der BierzoW ist im Sinne der bundesrätlichen Instruktion mit Fr. 9 erledigt worden. Bei dieser Position sowohl als bei den zugestandenen Zollbindungen für Gerste und Malz hat sich die Schweiz ausdrücklich die Einführung einer Biersteuer auf dem Wege von Zuschlagszöllen Vorbehalten.! ]3

2. Schweizerische Begehren zum deutschen Tarif.

Was die deutschen TextilzöWt anbelangt, so konnten in den letzten Tagen die Kategorien Konfektion aus Baumwolle, Wolle und Seide in annehmbarer Weise erledigt werden. Auf den beiden schwierigsten und wichtigsten Gebieten, Seide und Baumwollstickerei, ist dagegen nur eine teilweise Verbesserung erzielt worden. Was zunächst die Seide anbelangt, so erklärt die deutsche Delegation trotz der intensivsten Bemühungen der schweizerischen Unterhändler, vollständig ausserstande zu sein, irgendwelche weiteren Konzessionen zu machen. Das jetzige Angebot sei erfolgt zu einer Zeit, als der französische Franken einen Kurs von 22.- aufwies, während heute dieser Kurs nur noch 13.- betrage. Durch diese Veränderung sei für die deutsche Seidenindustrie die Gefahr eines übermässigen Valutaimportes aus Frankreich gewaltig gestiegen, so dass eigentlich auch die Aufrechterhaltung des letzten Angebotes kaum verantwortet werden könne. Dieses sei übrigens gemacht worden in der Meinung, ein deutsch-französischer Handelsvertrag und damit die Einräumung der Meistbegünstigung durch Deutschland an Frankreich stehe noch in weiter Ferne. Jetzt aber sei Deutschland aus politischen Gründen genötigt, Frankreich in einem Handelsprovisorium die Meistbegünstigung zuzugestehen, und dadurch werde die deutsche Seidenindustrie in unerträglicher Weise belastet. Die deutsche Delegation sei denn auch von einer Spezialkommission des Reichsverbandes der deutschen Industrie wie auch von ihrer Regierung ersucht worden, wenn irgendwie möglich die bisher der Schweiz gemachten Angebote zu reduzieren. Es sei absolut sicher, erklären die deutschen Unterhändler, dass Deutschland in absehbarer Zeit nicht mehr in der Lage sein würde, das jetzige Angebot zu wiederholen, geschweige denn eine weitere Ermässigung der Seidenzölle zuzugestehen.

Das Volkswirtschaftsdepartement hat unterdessen mit der schweizerischen Seidenindustrie auf schriftlichem Wege den mündlich begonnenen Gedankenaustausch fortgesetzt4 und von ihr die bestimmte Erklärung erhalten, sie betrachte zwar die von Deutschland angebotenen Zölle als immer noch absolut unerträglich und stark übersetzt, allein sie lege doch Wert darauf, das Seidengebiet nicht aus dem Vertrage wegzulassen, da immerhin eine erste Bresche geschlagen werde, von der aus man später weiter verhandeln könne. In Übereinstimmung mit den Wünschen unserer Seidenindustrie hat die schweizerische Delegation versucht, wenigstens die uns auf 1. Januar 1928 angebotenen weitern Zollermässigungen sofort zu erhalten und in irgend einer Form festzulegen, dass nach Stabilisierung der französischen und italienischen Valuta über neue Ermässigungen verhandelt werden solle. Beides hat die deutsche Delegation aus den geschilderten Gründen in peremtorischer Weise abgelehnt.

Die schweizerischen Unterhändler sind der Ansicht, dass ein weiteres Beharren nutzlos ist und man sich schliesslich mit den jetzt angebotenen Seidenzöllen vorläufig wird abfmden müssen. Jedenfalls bedeuten sie gegenüber dem heutigen Zustand insofern eine nicht unwesentliche Verbesserung, als die Schweiz oder ein anderer Staat später von einer herabgesetzten Grundlage aus weitere Herabsetzungen erreichen kann. Dagegen dürfte allerdings eine spürbare Belebung des Geschäftes kaum zu erwarten sein.

Ausschlaggebend scheint aber die auch von der schweizerischen Seidenindustrie geteilte Überzeugung zu sein, dass auch ohne Vertragsabschluss und selbst bei Anwendung der schärfsten Kampfmittel ein besseres Resultat kaum erzielbar wäre.

Hinsichtlich der Stickerei sind noch teilweise Verbesserungen dadurch erzielt worden, dass es einmal gelungen ist, den Ausrüstungs-Veredlungsverkehr trotz der schärfsten Opposition der deutschen Interessenten in befriedigender Weise zu regeln, und dass sodann Deutschland den Zoll für Plattstich-Stickereien weiter von Mk.615 auf Mk. 550 zu reduzieren bereit ist. Dagegen lehnt es den Stickerei-Veredlungsverkehr, auch wenn er nur auf das Besticken deutscher Gewebe beschränkt würde, nach wie vor des bestimmtesten ab.

Mit der einstimmigen schweizerischen Delegation ist das Volkswirtschaftsdepartement der Auffassung, dass auch hier, ähnlich wie bei der Seide, eine Aufgabe des grundsätzlichen deutschen Standpunktes in keinem Falle erwartet werden kann und dass, wollte man daran den Vertrag scheitern lassen, nicht nur keine Verbesserung, sondern eine wesentliche Verschlechterung die Folge wäre. Die Opposition der ostschweizerischen Stickerei-Interessenten gegen den Vertrag ist denn auch eine weniger geschlossene, da insbesondere die Ausrüster nun ein unzweifelhaftes Interesse am Vertragsabschluss besitzen. [...]

Das Volkswirtschaftsdepartement kommt deshalb zum Schlüsse, es sei, so ausserordentlich bedauerlich dies ist, auf den Stickerei-Veredlungsverkehr zu verzichten, dagegen zu versuchen, den Zoll für Plattstich- und Kettenstichstickereien noch um ca. Mk. 50 weiter herunterzudrücken, schliesslich aber die zuletzt von Deutschland angebotenen Ansätze zu akzeptieren5.

Würdigt man nun zusammenfassend das in diesen langwierigen, schwierigen und mühsamen Verhandlungen Erreichte und setzt man es in Beziehung zu dem, was die Schweiz ihrerseits bei Abschluss des Vertrages geben müsste, so ist folgendes festzustellen:

Verbesserungen für den schweizerischen Export nach Deutschland:

Der Abschluss eines eigentlichen Handelsvertrages würde zunächst alle die uns durch Deutschland bei Abschluss des provisorischen Abkommens vom 6. November 1925 gemachten, nicht unerheblichen Zollzugeständnisse für längere Zeit konsolidieren. Dazu kämen weitere zum Teil recht wesentliche Verbesserungen für den schweizerischen Export: [...]6

Berücksichtigt man, dass neben diesen direkten Herabsetzungen der Zölle auf vielen Gebieten, namentlich für Textilien, zum Teil sehr wichtige Vereinbarungen über eine günstigere Durchführung der Verzollungsmodalitäten zugestanden wurden, so wird man zum Schlüsse kommen, dass der neue Vertrag für die meisten schweizerischen Exportindustrien zum Teil sehr beträchtliche Verbesserungen bringt. Selbst wenn man mit Recht Bedenken dagegen haben kann, bei einzelnen Kategorien Zölle in einem Handelsvertrag festzulegen, die ein Vielfaches der schweizerischen Zölle betragen und an deren Höhe vor dem Krieg kein Mensch auch nur gedacht hätte, so darf doch nicht übersehen werden, dass ohne Vertrag diese Zölle nicht nur nicht verschwinden, sondern in erhöhtem Masse bestehen bleiben würden. Der Hauptvorteil des ganzen Vertrages scheint denn auch darin zu liegen, dass er einen energischen Schritt im Sinne des Abbaues übertriebener Zollschranken bedeutet und dass die Schweiz eine erste beträchtliche Bresche in die teilweise so überaus hohe Zollmauer geschlagen hätte. Dazu kommt insbesondere noch, dass die Schweiz das allergrösste Interesse daran hat, die Handelsbeziehungen mit Deutschland, dem wirtschaftlich wichtigsten ihrer Nachbarn, zu regeln und zu sichern, um in den vorauszusehenden Kämpfen mit Frankreich die nötige ruhige Grundlage zu schaffen. Auch für die weitern Verhandlungen mit der Tschechoslowakei ist der Abschluss des Vertrages mit Deutschland von grösstem Vorteil.

Hält man sich vor Augen, dass die Schweiz die oben skizzierten Zollzugeständnisse in der Hauptsache nur auf Grund eines auf dem Papier stehenden Verhandlungstarifs erzielt hat, so wird man angesichts dieser bescheidenen Waffe das Resultat als durchaus erträglich bezeichnen können. Unsere Zugeständnisse bestehen hauptsächlich darin, dass wir uns verpflichten, bei den Deutschland interessierenden Waren unsere heutigen Zölle nicht zu erhöhen. Diese Zollbindungen bedeuten wohl einesteils eine gewisse Fessel, haben aber auf der ändern Seite den Vorteil, bei einer Inkraftsetzung des provisorischen Generaltarifs nur diejenigen Erhöhungen faktisch in Wirksamkeit treten zu lassen, die andere Staaten, insbesondere Frankreich, interessieren. Auch dürfte die allenfalls notwendig werdende Inkraftsetzung dieses provisorischen Generaltarifs selbstverständlich angesichts der vielen Deutschland zugestandenen Bindungen bedeutend geringem internen Schwierigkeiten rufen, als das sonst der Fall gewesen wäre.

Durch den Vertrag würde sich die Schweiz allerdings auch verpflichten, bei 76 ganzen Positionen die Zölle ihres heutigen Gebrauchstarifs etwas abzubauen. Das Volkswirtschaftsdepartement hat aber die bestimmte Überzeugung, dass dieser Abbau sowohl wirtschaftlich wie finanziell durchaus erträglich ist, ja in verschiedener Beziehung sogar von rein internen Gesichtspunkten aus notwendig wäre. Es handelt sich durchwegs um Positionen, bei denen unsere Zölle im Jahre 1921 aussergewöhnlich stark erhöht wurden und heute bedeutend über den entsprechenden Zöllen Deutschlands stehen. Der vorgeschlagene Abbau beträgt durchschnittlich etwa 10% und wird sicherlich nirgends zu einer unerträglichen Belastung der betroffenen Produzenten führen.

Was schliesslich die allgemeinen Bestimmungen des Vertrages anbelangt, so bringen diese keine Neuerungen von Bedeutung. Alle zuständigen Departemente und Amtsstellen haben sich bereits einverstanden erklärt. Hervorzuheben wäre lediglich, dass es gelungen ist, die deutschen Unterhändler zum Verzicht auf die Aufnahme steuerrechtlicher und solcher Bestimmungen, die in einen Niederlassungsvertrag gehören, zu veranlassen. Der grenznachbarliche Verkehr ist in ähnlicher Weise geregelt wie bisher. Eine Abänderung schlägt das Volkswirtschaftsdepartement insofern vor, als es eine vertragliche Pflicht, bestimmte Fleischmengen zollfrei hereinzulassen, nicht eingehen möchte, nachdem Deutschland unser entsprechendes Begehren für Käse abgelehnt hat. Es bleibt dann unserer autonomen Regelung Vorbehalten, inwieweit die sich widerstreitenden Interessen zwischen Landwirtschaft und Metzgern einerseits und den Konsumenten der Grenzorte anderseits auszugleichen sind.Was das Inkrafttreten des Handelsvertrages anbetrifft, so sollte dieses erst nach der Genehmigung des Vertrages durch die Bundesversammlung erfolgen. Die Arbeiten können sehr wohl derart gefördert werden, dass das Geschäft in der nächsten Septembersession erledigt werden kann. Es wäre aber dafür zu sorgen, dass die Räte das Traktandum bereits in der ersten oder zweiten Woche der nächsten Tagung behandeln.

Endlich bemerkt der Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartementes, dass der Handelsvertrag deutscherseits möglicherweise auch vom Gesandten in Bern unterzeichnet werde. In diesem Falle wäre es angezeigt, dass für die Schweiz ausser den Unterhändlern auch der Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartementes unterzeichne. Hierauf wird bei der Abfassung der Vollmachten für die Unterzeichnung Rücksicht zu nehmen sein.

Antragsgemäss wird beschlossen:

Mit Deutschland ist ein Handelsvertrag auf Grundlage des vom Volkswirtschaftsdepartement erstatteten Berichtes abzuschliessen.

Dieser Vertrag soll jedoch erst nach Genehmigung durch die Bundesversammlung in Kraft gesetzt werden.

Falls der deutsche Gesandte in Bern den Vertrag deutscherseits mitunterzeichnen sollte, wird für die Schweiz auch der Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartementes zusammen mit den schweizer. Unterhändlern unterzeichnen.

1
E 1004 1/300. Abwesend: Häberlin, Haab und Musy.
2
E 1001 1, EVD, 1926. - Diese Instruktionen betrafen die noch zu erledigenden beidseitigen Tarifliegehren.
3
Das Protokoll erwähnt die Einigung über die Tarifposten Milch, Schokolade, Arzneiwaren und Taschenuhren.
4
Das Volkswirtschaftsdepartement teilte in diesem Zusammenhang der Zürcherischen Gesellschaft für Seidenindustrie am 24.6.1926 unter anderem mit: Die seitherigen Besprechungen unserer Delegierten mit den deutschen Unterhändlern haben uns nun in der Überzeugung bestärkt, dass der deutschen Regierung auch die Fixierung der von ihr angebotenen Seidenzölle mit Rücksicht auf andere Länder sehr schwer fällt und für sie eine wesentliche Konzession bedeutet. Es scheint uns sicher zu sein, dass ein allfälliger Verzicht der Schweiz auf die Regelung der Seidenzölle für die deutsche Delegation und für die deutsche Regierung eine sehr wesentliche Er- leichterung bedeuten würde und dass man sich schweizerischerseits durch einen solchen Verzicht sonst nicht erhältliche Konzessionen auf ändern Gebieten erwerben könnte (E 7110 1/22).
5
Vgl. dazu Nr. 205 und Nr. 206.
6
Es folgt eine nach Warenkategorien geordnete Aufzählung dieser Verbesserungen.