dodis.ch/43707  Rede des Bundespräsidenten, F. Calonder, vor dem Nationalrat1

Die Geschäftsprüfungskommission hat sich in ihrem schriftlichen Bericht2 über den Komplex von völkerrechtlichen Fragen ausgesprochen, die sich um den Begriff des Völkerbundes gruppieren. Gestern haben wir aus dem Munde des Herrn Nationalrat Scherrer-Füllemann die nähere Begründung der Stellungnahme der Kommission gegenüber diesen Problemen gehört. Ich möchte Herrn Scherrer-Füllemann für sein von hohem Gedankenflug getragenes, ausserordentlich gründliches und lehrreiches Referat3 warmen Dank sagen.

Das Departement schenkt dieser wichtigen Frage schon seit geraumer Zeit seine volle Aufmerksamkeit. Es soll auf diesem wichtigen Gebiete nichts versäumt werden. Wie Sie wissen, hat das Politische Departement im Einverständnis mit dem Bundesrate anfangs dieses Jahres Herrn Dr. Max Huber, Professor an der Universität Zürich, als ständigen Rechtskonsulenten bestellt. Ich benütze den Anlass, um der Regierung des Kantons Zürich dafür zu danken, dass sie den Genannten seiner Lehrpflichten an der Universität Zürich bis auf weiteres entbunden hat, damit er seine volle Kraft dem Politischen Departement zur Verfügung stellen könne. Eine Hauptaufgabe unseres Rechtskonsulenten besteht darin, die verschiedenen Fragen einer neuen internationalen Rechtsordnung umfassender Prüfung zu unterwerfen und darüber dem Politischen Departement Bericht zu erstatten. Die Anträge und Entwürfe des Rechtskonsulenten sollen sodann in einer vorberatenden Kommission behandelt werden4. Das Ergebnis dieser Kommissionsberatung wird dem Bundesrate mit einlässlicher Begründung unterbreitet werden, damit er in voller Sachkenntnis Stellung nehmen kann. Der Bundesrat behält sich vor, über diese ganze Angelegenheit seinerzeit dem Parlament Bericht zu erstatten. Bereits hat Herr Professor Huber die Arbeit in Angriff genommen und bereits hat der Bundesrat beschlossen, die vorberatende Kommission einzusetzen5. Das Politische Departement wird seinerzeit dem Bundesrat Antrag über die Zusammensetzung dieser Kommission stellen6.

Es handelt sich dabei um Untersuchungen und Vorschläge, die zunächst wesentlich theoretischer Natur sind und die zu unserer eigenen internen Orientierung dienen. Diese Arbeit der bundesrätlichen Experten ist scharf zu trennen von der Frage, ob der Bundesrat in einem gegebenen Zeitpunkte als Friedensvermittler irgend etwas unternehmen solle. Der Standpunkt des Bundesrates in letzterer Beziehung ist Ihnen zur Genüge bekannt: Wenn wir durch unsere Vermittlung dazu beitragen könnten, den Abschluss eines dauernden, gerechten und versöhnenden Friedens zu fördern, so wäre das für uns und für unser Land die grösste Genugtuung. Wir werden aber nur dann unsere guten Dienste anbieten, wenn wir annehmen dürfen, dass diese auf beiden Seiten erwünscht sind. Trotz der grossen steigenden Not unseres Landes und trotz der tiefen Sehnsucht unseres Volkes nach dem Frieden, wollen wir weder nach der einen noch nach der andern Seite unsere Vermittlung aufdrängen. Diese vorsichtige Zurückhaltung ist nicht nur geboten durch den internationalen Takt und durch unsere ganz besondere, neutrale Stellung, sondern sie liegt auch schliesslich im wohlverstandenen Interesse aller kommenden ernstlichen Friedensversuche. Es lag mit daran, das hier zu erklären, um jegliches Missverständnis von vorneherein zu vermeiden.

Was nun aber das Studium der Völkerbunds-Probleme anbelangt, so fühlen wir uns selbstverständlich durchaus frei. Da hat niemand etwas dareinzureden, und unsere neutrale Stellung kann davon nicht berührt werden. Die so abgegrenzte und organisierte Vorbereitungsarbeit wird die Ansichten unserer Behörden und unseres Volkes in der Frage einer neuen Völkergemeinschaft abklären, und uns gestatten, an der Verwirklichung dieses hohen Menschheitsideals wirksam teilzunehmen. Dieser Aufgabe können und wollen wir uns nicht entziehen, denn sie liegt in der grossen Linie der historischen Entwicklung, die durch den furchtbaren Krieg wohl unterbrochen wurde, aber nicht aufgehalten werden kann.

Seitdem aus der Welt des Mittelalters heraus sich die modernen Staaten gebildet haben, ist von juristischen und philosophischen Denkern, aber auch von praktischen Staatsmännern immer wieder der Gedanke vertreten worden, durch Zusammenschluss der selbständigen Staaten eine Völkergemeinschaft zu bilden. Die Einheit der europäischen Kultur und die stetig zunehmende gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Staaten auf der einen Seite und auf der andern Seite die Erinnerung an die furchtbaren Folgen der häufigen Kriege haben immer wieder dazu geführt, einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen der Staaten in einer internationalen Rechtsordnung zusuchen.

Im Jahre 1713 kam der Utrechter Friede zustande. Er war der Abschluss des spanischen Erbfolgekrieges, der in mancher Beziehung dem heutigen Weltkrieg vergleichbar ist. Damals haben die Weltmächte geglaubt, eine Lösung des Völkergemeinschaftsproblems gefunden zu haben, indem sie die internationale Ordnung und Sicherheit auf das Prinzip des Gleichgewichtes gründeten. Doch dieses Gleichgewicht entbehrte jeder organisatorischen Sicherung und blieb infolgedessen völlig labil. Hundert Jahre später mussten die Völker durch die ungeheuren Leiden der grossen Revolution und der napoleonischen Kriege hindurchgehen. Der Abschluss jener Wirren war der Wienerkongress und im Gefolge des Wienerkongresses entstand die heilige Allianz, welche angeblich bezweckte, die Grundsätze der christlichen Moral auf das Staatsleben anzuwenden. Allein alsbald zeigte sich, dass diese von der Pentarchie der Grossmächte geführte internationale Gemeinschaft eigentlich nur einer reaktionären, freiheitsfeindlichen Politik dienstbar gemacht werden sollte. So musste dieser Versuch misslingen und der hohe Gedanke der Völkergemeinschaft ging geschwächt daraus hervor. Aber dennoch lebte er weiter.

Als wieder ein Jahrhundert zur Neige ging, erkannte man von neuem die Gefahr, die über Europa schwebte und drohte, weite Kreise der Menschheit in den Strudel eines grossen Krieges zu ziehen. Das Nationalitätenprinzip hatte sich gesteigert und voll ausgewachsen. Geschlossener als je standen die Staaten einander gegenüber, der Kampf um die materielle Macht kannte keine Grenzen. Der Stand der Technik, welche eine früher ungeahnte Höhe erreicht hatte, gestattete und förderte kriegerische Rüstungen von ungeheurem Umfang, von verderblichster Wirkung. Weitblickende Männer auf den verschiedenen Gebieten der Politik, der Volkswirtschaft und des Militärs erkannten die gewaltige Gefahr und sahen ein, dass die Folgen eines solchen, nach Dauer und Ausdehnung unberechenbaren Krieges katastrophal sein würden. Um diese Gefahr zu beschwören, lud Russland im Jahre 1898 zur ersten Friedenskonferenz im Haag ein7. Schon im Sommer 1899 kamen Vertreter der europäischen und einiger amerikanischer und asiatischer Staaten im Haag zusammen. Es war, wenn auch die Bedeutung der Haager-Konferenzen keineswegs unterschätzt werden soll, im Grunde ein Misserfolg, der zurückzuführen ist auf Skepsis, die man in den amtlichen Kreisen und in der Diplomatie mancher Staaten diesen Bestrebungen entgegenbrachte. Nicht minder ist das unbefriedigende Resultat jener Konferenz zurückzuführen auf die stumpfe Gleichgültigkeit oder höhnische Geringschätzung, welche in weiten Schichten der Völker selbst herrschte. Die grosse Idee fand eine kleinliche Menschheit. Ohne eine grosse tiefgehende Bewegung kann Grosses auf keinem Gebiete geschaffen werden, am allerwenigsten auf dem Gebiete der internationalen Rechtsordnung. Kein besserer Stern leuchtete über der zweiten Konferenz im Haag im Jahre 1907. Auch ihre Ergebnisse konnten nicht befriedigen, wenn auch zuzugeben ist, dass eine Reihe von Staaten damals wesentlich über das von der ersten Konferenz Erreichte hinausgehen wollte8. Indessen wären jene Projekte kaum geeignet gewesen, eine wirkliche Friedenssicherung zu schaffen, und so konnte ihnen der Bundesrat damals auch nicht zustimmen. Die 1899 in erster Linie angestrebte einschneidende Neuerung, die Rüstungsbeschränkung, blieb gänzlich unverwirklicht. Die Abkommen über friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten9 tragen den Charakter schwächlicher Kompromisse, sind der Ausdruck einer Skepsis, die an der Oberfläche haften bleibt und sich scheut, den Dingen auf den Grund zu gehen. Blicken wir heute aus unserem ungeheuren Kriegselend zurück auf jene Konferenzen von 1899 und 1907, so können wir uns des Eindruckes nicht erwehren, dass sich hier eine erschütternde Tragödie abgespielt hat. Mit welchem übertriebenen Misstrauen und welcher Eifersucht auf ihre absolute Handlungsfreiheit suchten manche Staaten, die einen mehr, die andern weniger, jede ernste und wirksame Bindung im Interesse der Friedenssicherung zu vermeiden, weil eine solche angeblich mit der Souveränität der Staaten nicht vereinbar sei. Und heute? Heute sind alle diese Staaten in tausend Abhängigkeiten verstrickt, welche zu lösen der einzelne Staat die Kraft nicht aufbringt. Die Kraft der Menschheit nur, der zur internationalen Freundschaft und gegenseitigen Achtung bekehrten Menschheit, kann hier Wandel schaffen. Aber es ist gekommen, wie es kommen musste: Während im Innern der Staaten die rücksichtslose geschäftliche Konkurrenz und der Streit unter den gesellschaftlichen Klassen fest eingedämmt ist durch die staatliche Rechtsordnung, musste der Interessenstreit unter den Staaten schliesslich die verhältnismässig schwachen Schranken der Verträge und des Völkerrechts überborden und als Krieg verheerend dahinbranden.

Wir waren gewohnt, die Weltgeschichte der letzten vier Jahrhunderte als die Herrschaft Europas über die Erde zu betrachten. Diese Zeit ist wohl gewesen. In früheren Jahrhunderten konnte Europa trotz wiederholter Kriege sich immer wieder erholen und sich immer wieder aufraffen zur nötigen Kraft, um Weltarbeit zu verrichten und die prädominierende Stellung weiter zu behaupten und weiter auszudehnen, weil damals keine gegenüber den europäischen Mächten ernstlich konkurrenzfähigen Staaten anderer Erdteile da waren. Im Laufe der letzten hundert Jahre hat sich diese Lage allmählich geändert, und heute haben wir ein völlig verändertes Bild vor uns. Unversehrt oder doch verhältnismässig wenig geschwächt, bestehen gewaltige und grosser Entwicklung fähige Staaten und Völker ausserhalb unseres Erdteils, welche in der wirksamsten Weise in wirtschaftliche und politische Konkurrenz treten mit den europäischen Völkern. Es kann sich nicht mehr um eine Vorherrschaft Europas handeln, sondern nur das kann nach meiner Ansicht Europa anstreben, dass es neben den Kulturstaaten anderer Erdteile an der Weltarbeit teilnehmen könne. Und auch dies ist nur möglich, wenn den rücksichtslosen, entsetzlichen Kriegen, in welche der Konkurrenzkampf zwischen den europäischen Staaten jeweils ausartete, endlich ein Ende gemacht wird.

So ist aus der Not der heutigen Zeit der Ruf nach einem Völkerbund laut geworden, zuerst in Frankreich, in England, bei den Neutralen, dann auch in Deutschland und in Österreich. Mit ganz besonderem Nachdruck haben der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika10 und der Papst11 diesen Gedanken ausgesprochen. Eine Idee, die früher lediglich den oft verspotteten Pazifisten und Theoretikern überlassen war, ist heute in die Kreise der Diplomaten und Politiker eingedrungen und wird sich dort behaupten und wird nicht zur Ruhe kommen. Wohl ist zuzugeben, dass mit dem Begriff eines Friedens- oder Völkerbundes, oder wie die Stichworte alle lauten, verschiedene Vorstellungen verbunden werden, und die Sympathien für diesen Gedanken sind zweifelsohne nicht überall die gleichen. Aber das Eis ist gebrochen. Ein hohes Ideal, das die Menschheit bewegt, ist in die praktische Politik übergegangen. Wird es die Menschheit so tief, so allgemein bewegen, dass die Widerstände gegen seine Verwirklichung fallen? Das ist die Frage. Denn nur dann kann der grosse Gedanke zur rettenden Tat werden, wenn er mächtig an Boden gewinnt, wenn die Überzeugung von der Notwendigkeit der neuen Orientierung in der internationalen Politik sich im Bewusstsein der Völker weithin und eindringlich durchsetzt. Die Zeit muss früher oder später kommen, wo ein entscheidender Schritt getan werden muss, entscheidend dafür, ob ein Wiederaufbau und damit ein sozialer Aufstieg möglich wird, oder ob Europa auf unabsehbare Zeit immer wieder zerstörenden Erschütterungen ausgesetzt sein wird.

Kein Volk kann lebendigeren Anteil an der Neugestaltung der Staatengemeinschaft nehmen als die kleine Schweiz. Ganz allgemein möchte ich sagen: Auf die Dauer kann unbegrenzte Eigenmacht und völlige internationale Ungebundenheit keinem Volk wirkliche Vorteile bieten. Ein solches politisches System muss, wie alle ungebundene Macht, schliesslich auf Staaten und Menschen zerstörend wirken. Für einen kleinen Staat aber wie die Schweiz ist die rechtliche Ordnung ein Lebenselement, die Machtpolitik eine unverkennbare ständige Gefahr. Freilich wird man vom Standpunkte des Misstrauens und der Skepsis aus auf die Gefahr hinweisen, dass die internationalen Bedingungen, die zur Aufrichtung einer neuen internationalen Rechtsordnung unerlässlich sind und denen sich kein Staat entziehen kann, der diesen Zweck aufrichtig unterstützt, missbraucht werden könnten, um gerade die kleinen Staaten zu schädigen und in ihrer Freiheit und Entwicklung zu beeinträchtigen. Aber ich frage: Ist nicht die andere Gefahr viel grösser, viel näher liegend, dass die internationale Anarchie und Rechtlosigkeit von den mächtigen Staaten ausgenützt werden, um die Schwächeren, wo es ihnen passt, zu bedrängen? Ich bin der Überzeugung, dass alles, was zur Vermeidung kriegerischer Konflikte, die je länger je mehr den Charakter vernichtender Weltkatastrophen annehmen, geschehen kann, vor allem im Interesse der kleinen Staaten liegt. Die vorauszusehende Unvollkommenheit der neuen internationalen Institutionen kann und darf kein genügender Grund sein, um deren Einführung nicht ernstlich zu betreiben. Es steht für die Schweiz bei internationalen Konflikten so viel auf dem Spiel und in einer Atmosphäre dauernder kriegerischer Gefahren ist die Entwicklung unseres Staates so prekär und so beengt, dass wir alles begrüssen müssen, was im Sinne der Völkerverständigung und der Stärkung des Friedensgedankens liegt.

Doch ich möchte unsere speziellen staatlichen Interessen nicht zu sehr betonen. Es ist dies nicht der einzige und nicht einmal der ausschlaggebende Gesichtspunkt für die Haltung der Schweiz, wenigstens nach meiner Auffassung. Es handelt sich, und darüber müssen wir uns klar werden, vor allem um ein grosses Menschheitsideal. Diesem wollen wir dienen, in erster Linie dienen, uneigennützig und mit voller Hingabe. Dann erwächst unserem Staat daraus von selbst der grösstdenkbare Vorteil: das Bewusstsein treuer Pflichterfüllung gegenüber der Menschheit, die Kraft und das Recht, als ein tüchtiges, gleichberechtigtes Glied der Völkergemeinschaft sich zu behaupten.

Trotz aller Hoffnungen, mit denen wir der Entwicklung dieses grossen Gedankens entgegenblicken, dürfen und wollen wir den Boden der Wirklichkeit in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft keinen Augenblick verlassen. Wir alle stimmen darin überein, so nehme ich an, dass die Schweiz nicht unter allen Umständen sich einem Völkerbund oder einer anders benannten neuen internationalen Organisation anschliessen soll, sondern nur dann, wenn dabei der Fortbestand unserer nationalen Eigenart und Selbständigkeit und unsere Gleichberechtigung in genügender Weise gewährleistet sind. Dass Mass, in dem ein Staat sich gegenüber einer Gemeinschaft binden kann, ist bedingt durch die Vorteile und die Sicherheit, die sie der Menschheit und den einzelnen Völkern zu bieten imstande ist. Darum eben wollen wir vorerst durch die bundesrätlichen Experten alle diese Fragen genau prüfen und feststellen lassen, welche Bedingungen die Schweiz für ihren Eintritt in die neue internationale Rechtsordnung, wenn eine solche zustande kommt, zu formulieren hat.

Die nationale Eigenart der Völker ist und bleibt die Grundlage fortschrittlicher Entwicklung. Unser Menschheitsideal ist ein durchaus föderatives und nicht ein kosmopolitisches. Und wie die neue internationale Gemeinschaft niemals eine Preisgabe der nationalen Eigenart der verschiedenen Völker bedeuten darf, so soll sie auch das Pflichtgefühl der Bürger gegenüber ihrem Staat nicht lockern, sondern befestigen und vertiefen. Wenn irgendein Wehrmann der Schweiz unter Hinweis auf den erhofften Völkerbund sich der Erfüllung seiner Wehrpflicht entziehen wollte, so würden wir jede derartige Sophisterei mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Solange unser Vaterland kriegerischen Gefahren ausgesetzt ist, solange ist es heilige Pflicht seiner Söhne, Gut und Blut für dessen Freiheit und Selbständigkeit zu opfern, und wer nicht imstande ist, seine Pflichten gegenüber seinem Vaterlande zu erfüllen, der wird sicher auch kein tüchtiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft sein können.

Aus all dem Gesagten ergibt sich, dass die Stärkung des Rechts- und Friedensgedankens im internationalen Leben sich der Schweiz als hohes aussenpolitisches Ziel geradezu aufdrängt. Dieses Ideal ist für uns eigentlich nichts Neues. Es wächst aus unserer Geschichte, aus unserer Eigenart, in natürlicher Entwicklung heraus. Unsere Demokratie umfasst vier Sprachgruppen, die sich auf Grund gegenseitiger Achtung in unverbrüchlicher Treue zu einem Volk verbunden fühlen. Unser Vaterland ist uns gerade deshalb so teuer, weil es diesen Reichtum der sprachlichen und regionalen Werte in sich schliesst. Wir erblicken darin die vornehmste Quelle unserer idealen Güter. Gewiss, diese Mehrsprachigkeit, diese bunte Fülle der Kulturelemente birgt in sich Komplikationen, Schwierigkeiten, unter Umständen Gefahren; unsere Schweizergeschichte weiss hiervon zu erzählen. Aber es ist uns bisher gelungen, und es wird uns weiter gelingen, die vielgestaltigen Kräfte und Bestrebungen unseres Volkes zusammenzufassen zu schöpferischer nationaler Arbeit. Das ist freilich nur möglich, wenn in der eidgenössischen Familie eine starke und opferwillige nationale Solidarität lebendig bleibt und unbedingtes gegenseitiges Vertrauen herrscht. Volles Vertrauen ist aber nicht denkbar ohne rückhaltlose Offenheit und freundschaftliche Gesinnung. Der grösste Dichter der deutschen Schweiz, der feurige Patriot Gottfried Keller, hat die allgemeine Richtungslinie der Politik unseres kleinen, komplizierten Staates treffend ausgedrückt mit den Worten: Freundschaft in der Freiheit. An dieser nationalen Devise wollen wir festhalten. Wenn wir das tun, so können wir sicher sein, dass wir trotz vorübergehender Unstimmigkeiten und Spannungen unsere geschichtliche Aufgabe erfüllen werden. Die Geschichte der Schweiz ist, verglichen mit der Entwicklung der internationalen Beziehungen, der Mikrokosmos dieser letzteren. Und unser Staat mit seinem ganzen politischen Leben erscheint gleichsam als die Vorstufe des künftigen Völkerbundes: Nie ist die internationale Mission eines Volkes klarer und selbstverständlicher gewesen als diejenige der Schweiz, Frieden und Freundschaft unter allen Völkern zu fördern und der Welt durch ihr Beispiel zu beweisen, dass verschiedene Rassen- und Sprachstämme auf der Grundlage gegenseitiger Achtung, auf der Grundlage der Freiheit und Gleichberechtigung zu einer glücklichen Gemeinschaft verbunden werden können.

Die Notwendigkeit einer Neugestaltung der internationalen Beziehungen wurde, wie schon betont, von den leitenden Staatsmännern der meisten kriegführenden Staaten beider Lager und auch von hervorragenden Staatsmännern neutraler Staaten anerkannt und betont. Man weiss auch, dass in verschiedenen Staaten bereits Kommissionen mit dem Studium dieser Fragen betraut worden sind. Wir sind also nicht die ersten, welche solche Beschlüsse fassen. Bestimmte Vorschläge von amtlicher Seite liegen bis heute nicht vor. Das ist wohl selbstverständlich; denn es handelt sich hier um ausserordentlich schwierige Fragen, mit denen die Politiker und die Diplomaten bisher sich meist nicht sehr intensiv befasst haben. Dagegen ist eine grosse Arbeit geleistet worden von privaten Gelehrten und von Männern aus allen Schichten der Völker, die sich mit diesem Gedanken befasst haben. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass nicht nur die Studien der zünftigen Juristen und zünftigen Politiker in Frage kommen. Es wäre nicht zu verantworten, wenn man nicht auch die zahlreichen und zum Teil gedankenreichen Abhandlungen aus Laienkreisen berücksichtigen würde. Gewiss finden sich in dieser Literatur sehr viele und zum Teil auffallende Entgleisungen. Aber daneben enthalten diese Äusserungen aus privaten Kreisen wertvolle Anregungen, an denen man nicht ohne weiteres Vorbeigehen darf.

Den Anregungen, welche Herr Scherrer-Füllemann gestern vorgebracht hat, soll selbstverständlich unsere volle Aufmerksamkeit zugewendet werden. Ich meinerseits bin heute nicht im Falle, zur Lösung der zahlreichen Fragen, die mit dem Problem der neuen internationalen Ordnung Zusammenhängen, bestimmte Vorschläge zu machen. Ich möchte vor allem das Ergebnis der Arbeit unserer Experten abwarten. Daher beschränke ich mich auf ganz wenige Bemerkungen und Hinweise. Vor allem ist wichtig, dass die Grundsätze klargelegt werden, welche einer solchen internationalen Neuordnung zugrunde gelegt werden, und dass man sich nicht jetzt schon auf allerlei Einzelpunkte festlegt. Praktisch wertvoll wird vor allem die Schaffung von Institutionen zur friedlichen Beilegung von internationalen Kollisionen sein. Diejenigen Differenzen zwischen verschiedenen Staaten, welche rechtlichen Charakter haben und deshalb nach streng rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und entschieden werden können, sind der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zuzuweisen, und es ist darnach zu trachten, dass die Staaten, wenn möglich, die unbeschränkte Pflicht anerkennen, solche genau umgrenzbare Rechtsstreitigkeiten dem Spruch eines Schiedsgerichtes zu unterbreiten. Diejenigen internationalen Streitigkeiten dagegen, welche sich nicht zur rechtlichen Beurteilung und rechtlichen Entscheidung eignen, sollen Gegenstand der Ausgleichvermittlung einer besonderen Institution bilden, und es soll auch hier nicht in das Belieben der Staaten gelegt werden, ob sie jeweilen bei der Zuspitzung einer Differenz sich überhaupt auf diese Vermittlung einzulassen haben oder nicht, sondern es sollte wenigstens so viel erreicht werden, dass alle Staaten den Vorschlag dieser Vermittlungsinstanz abwarten. Ob es möglich ist, die Staaten zu verpflichten, den Vermittlungsvorschlag von vorneherein als bindend zu betrachten, erscheint zweifelhaft und bedarf gründlichster Prüfung.

Von grosser Bedeutung ist dabei, dass diese Instanzen, sei es das Schiedsgericht, sei es die Institution zur Friedensvermittlung, permanente und selbständige Institutionen werden; ohne dass sie Permanenz und eine gewisse Selbständigkeit besitzen, werden sie ihre Aufgabe kaum erfüllen, d.h. jederzeit zugänglich und wirksam sein können. Es wäre alles zu tun, um die hohe Bedeutung dieser Institutionen allen Staaten und der öffentlichen Meinung in allen Ländern ständig in Erinnerung und zum Bewusstsein zu bringen.

Herr Scherrer-Füllemann hat auch gesprochen von den internationalen Sanktionen12, welche vorzusehen seien, um vorkommende Rechtsbrüche zu ahnden und internationale Rechtssätze zu vollstrecken, welche nicht freiwillig ausgeführt werden. Das ist in der Tat die schwierigste Frage im ganzen Problem. Es kommen dabei als Sanktionen wirtschaftliche Massnahmen und selbst militärische Waffengewalt in Betracht. Es wird davon abhängen, wie eng die internationale Gemeinschaft gestaltet wird, ob die eine oder die andere dieser Massnahmen als Sanktionsmittel Annahme finden kann oder nicht. Diese ganz besonders wichtige und schwer übersehbare Seite des Problems wird mit der grössten Sorgfalt zu prüfen sein, und namentlich wird man dabei die eigenartige, rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Schweiz nicht übersehen dürfen.

Ist die Friedenssicherung, d.h. die Verhinderung eines Ausartens internationaler Gegensätze zu gefährlichen Konflikten die Hauptaufgabe, so ist darüber doch der Ausbau der zwischenstaatlichen Rechtsordnung im Allgemeinen nicht zu vernachlässigen. Das im Haag begonnene Werk muss planmässig ausgebaut werden. Und da möchte ich vor allem darauf hinweisen, dass es nichts nützt, ja dass es nur schaden kann, wenn Scheingebilde allgemein verbindlicher Verträge, welche keine Rücksicht nehmen auf das Mögliche und auf die gegebenen natürlichen Verhältnisse, abgeschlossen werden. Die Erfahrung lehrt ja, dass sie doch nicht gehalten werden. Die Völker sind in ihrer Eigenart, in ihrer Entwicklung und in ihren Bedürfnissen zu verschieden, als dass man ihnen ohne zwingende Notwendigkeit eine äussere Einheitlichkeit aufdrängen dürfte. Nicht äussere Einheitlichkeit, sondern Sicherung der friedlichen, auf Arbeit und nicht auf Ausnützung politischer Macht sich gründenden Entwicklung jedes Volkes muss das Losungswort sein. In dieser Hinsicht kann es zweckmässig sein, gewisse Grundrechte der Staaten zu sichern; ich denke dabei z.B. an die Sicherung der Zugänge zu und von dem grossen Verkehrsweg des Meeres.

Eines darf man nicht vergessen: den Zusammenhang von innerer und äusserer Politik. Wie die kriegerischen Ereignisse störend und hemmend in die innerstaatliche soziale Entwicklung eingreifen, so kann auch nicht erwartet werden, dass unter den Staaten Friede dauernd bestehe, wenn unter den verschiedenen Gliedern und Klassen der einzelnen Völker ein rücksichtsloser Kampf um Gewinn und Übermacht herrscht. Diese Erkenntnis sollte die künftige nationale und internationale Politik beherrschen.

Der Erfolg der Völkerbundbewegung wird vor allem davon abhängen, in welchem Geiste diese Probleme angefasst werden. Ein wirklich erspriessliches Resultat kann nur dann erwartet werden, wenn der feste, ehrliche Wille sich betätigt, über die jetzige traurige internationale Rechtslage hinauszukommen und an Stelle des Machtprinzipes die Herrschaft der Rechtsidee zu setzen. Bei der Verwirklichung dieses Postulates wird der Staatsmann allerdings mit den Verhältnissen, wie sie sind, rechnen müssen: er wird ein ideales Ziel mit realen Mitteln zu verwirklichen suchen. Aber er darf in diesem Realismus nicht stecken bleiben; er darf sich nicht von der Skepsis beherrschen lassen. Noch weniger darf er aus Pessimismus – einem Pessimismus, der bei der heutigen Weltlage zwar nahe genug liegt – von vorneherein darauf verzichten, mit dem festen Willen zur Tat an diese Probleme heranzutreten. Ohne kraftvollen Optimismus, ohne freudige Zuversicht in die Möglichkeit einer besseren Zukunft, ist noch nie ein hohes politisches Gut, grosser Fortschritt errungen worden13.

1
Rede: CH-BAR#E27#1000/721#23379* (12.B.1.b), DDS, Bd. 6, Dok. 432, dodis.ch/43707. Die Rede wurde abgedruckt als Anhang 1,3 der Diese Publikation erschien auch auf Französisch (Berne 1919), Italienisch (Bellinzona 1919) und Englisch (Cambridge [1919]), dodis.ch/54024. Für die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund vom 4. August 1919 (ohne Anhänge), vgl. BBl, IV, S. 541–680, dodis.ch/8912. Für die Anhänge vgl. dodis.ch/54100.
2
Bericht der Kommission des Nationalrates über die Geschäftsführung des Bundesrates und des Bundesgerichtes im Jahre 1917 vom 14. Mai 1918 CH-BAR#E1301#1960/51#181*, Punkt 8: Die Frage der Gründung eines Völkerbundes zum Zwecke der künftigen Friedenssicherung und speziell auch die weitere Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Schweiz einem solchen Bunde beitreten könnte, bildeten Gegenstand der Besprechung sowohl im Schosse der Kommission als auch mit dem Vorsteher des Politischen Departements. Mit Befriedigung kann konstatiert werden, dass der letztere dem Studium dieser Frage bereits seine Aufmerksamkeit zugewendet ha. Gewiss aus guten Gründen. Denn nicht bloss die Grossmächte, sondern namentlich auch die Kleinstaaten haben das allergrösste Interesse daran, dass der Weltfriede in Zukunft unter den starken Schutz eines solchen Völkerbundes gestellt werde und dass durch letzteren die zur Feststellung, Vermittlung und Entscheidung künftiger internationaler Streitsachen durchaus notwendigen Organe und völkerrechtlichen Institutionen geschaffen werden. Die neutralen Staaten dürfen sich jetzt schon ohne Bedenken mit diesen Fragen beschäftigen, weil ja alle Kulturstaaten berufen sind, an der Vorbereitung und Erledigung derselben mitzuwirken, und weil die hervorragendsten Staatsmänner der beiden kriegsführenden Mächtegruppen einen solchen Völkerbund als ein erstrebenswertes Ziel bezeichnet haben. Nur auf dieser Grundlage wird eine allgemeine Abrüstung möglich und durchführbar sein. Es wäre daher sehr zu begrüssen, wenn der Bundesrat entweder, allein oder in Verbindung mit andern neutralen Regierungen die geeigneten Schritte tun würde, um eine Abklärung der mit der Gründung eines Völkerbundes zusammenhängenden Frage zu veranlassen.
3
Vgl. das handschriftliche Protokoll der 3. Sitzung des Schweizerischen Nationalrates vom 5. Juni 1918 CH-BAR#E1301#1960/51#181*: Herr Scherrer-Füllemann, Berichterstatter über die Frage der Gründung eines Völkerbundes zum Zwecke der künftigen Friedenssicherung, macht zu den gedruckten Bemerkungen folgende Ergänzungen: Die neutralen Staaten haben den Zeitpunkt des Einschreitens verpasst, als sie wirtschaftlich und militärisch noch Bedeutung hatten und als die Vereinigten Staaten von Amerika noch neutral waren. Nur wenn ein gemeinsames Vermittlungsgesuch von Seiten der kriegsführenden Staaten gestellt wird, können die neutralen Staaten nunmehr einen Vermittlungsversuch unternehmen. Es bleibt aber die Frage der Gründung eines Völkerbundes. Die Gruppenbündnisse haben uns den Weltkrieg gebracht und werden den Ruin Europas herbeiführen, wenn kein Ausweg gefunden wird. Dieser Ausweg ist ein allgemeiner Völkerbund. Von diesem soll kein Staat ausgeschlossen bleiben. In einem solchen Völkerbund können Sonderbündnisse nicht bestehen. Die notwendige Kompetenz eines Völkerbundes ist das Verbot der Erledigung von Konflikten durch Gewalt. Ein solcher Völkerbund wäre durch eine allgemeine Konferenz vorzubereiten. Die Friedenskonferenz soll periodische Sitzungen abhalten. Sie soll ein internationales Untersuchungsamt, ein internationales Vermittlungsamt und eine internationale Gerichtsinstanz besitzen. Das Untersuchungsamt soll den internationalen Streitgegenstand ermitteln, das Vermittlungsamt soll die Vermittlung versuchen. Ist die Vermittlung nicht möglich, haben die internationalen Gerichte, seien es die Schiedsgerichte oder die ständigen Gerichte, zu entscheiden. Wenn alle Kulturstaaten einem solchen Völkerbund zugestimmt haben, wäre die Rechtsordnung geschaffen. Von ihm würde das Wohl und Wehe Europas und der Welt abhängen. Alle extravaganten Projekte sollen bei Bildung dieses Zwecks ausgeschlossen werden. Die Souveränität des einzelnen Staaten soll nur soweit eingeschränkt werden, als der allgemeine Zweck dies erfordert. Es sollen ihm nicht alle möglichen und unmöglichen Aufgaben zugemutet werden. Man soll nicht an einen aus tausenden Vertretern bestehenden Volksrat denken. Nur ein Völkerbund kann neue Kriege vermeiden. Alle neutralen Staaten haben allen Grund, mitzuwirken. Die leitenden Staatsmänner Englands haben den Gedanken des Völkerbunds vertreten. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika stand von jeher und steht jetzt noch auf diesem Boden. Auch Frankreich hat gestattet, dass Franzosen mit Neutralen über diese Frage sich verständigen. Der deutsche Reichskanzler und der gewesene Minister Österreich-Ungarns Czernin haben sich für den Gedanken günstig ausgesprochen. Die interparlamentarische Union, der über 3600 Mitglieder angehören, war immer Freund des Völkerbundes. Die Kommission spricht daher den Wunsch aus, der Bundesrat möchte dieser Frage seine Aufmerksamkeit schenken. Das politische Departement hat sich bereits mit der Frage beschäftigt. Nach dem letzten Neutralitätsbericht ist gerade Herr Professor Max Huber mit der Prüfung dieser Frage betraut worden. Es wird zunächst zu prüfen sein, welche Exekutionsmittel zur Anwendung kommen sollen, ob wirtschaftliche oder kriegerische. Eine Konferenz hat sich für die wirtschaftlichen Zwangsmittel ausgesprochen.
4
Vgl. dazu Dok. 4, dodis.ch/43806, bes. Anm. 7.
5
DDS, Bd. 6, Dok. 418, dodis.ch/43693.
6
Vgl. dazu Dok. 4, dodis.ch/43806.
7
Vgl. dazu DDS, Bd. 4, Dok. 283, dodis.ch/42693.
8
Zu den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 vgl. die thematische Zusammenstellung dodis.ch/T1503.
9
Konvention für die friedliche Regelung internationaler Streitigkeiten vom 29. Juli 1899 und Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vom 18. Oktober 1907, BS, 11, S. 189–234.
10
W. Wilson.
11
Benedikt XV.
12
Mit der Londoner Erklärung vom Februar 1920 entbanden die Grossmächte die neutrale Schweiz von der Teilnahme an militärischen Sanktionen. Im Gegenzug verpflichtet sich der Bundesrat, wirtschaftliche Sanktionen des Völkerbundes mitzutragen. Vgl. dazu Dok. 18, dodis.ch/1721. Im Zusammenhang mit dem Abessinienkrieg beschloss die Schweiz die Rückkehr zur integralen Neutralität, welche der Völkerbund in seiner Resolution vom Mai 1938 akzeptierte. Vgl. dazu Dok. 41, dodis.ch/54174.
13
Für den Kommentar von J. A. Scherrer-Füllemann vgl. das handschriftliche Protokoll der Sitzung des Schweizerischen Nationalrates vom 6. Juni 1918 CH-BAR#E1301#1960/51#181*: Herrn Scherrer-Füllemann verdankt der Sprechende seine Auseinandersetzungen über die Gründung eines Völkerbundes und einer internationalen Rechtsordnung. Das politische Departement hat Herrn Professor Dr. Max Huber mit der Prüfung der Fragen der Schaffung einer internationalen Rechtsordnung beauftragt. Das politische Departement wird seiner Zeit dem Bundesrat zuhanden der Bundesversammlung seine Vorschläge machen. Zur Prüfung der Frage ist auch eine Kommission zugezogen worden. Die Frage der Friedensvermittlung ist von derjenigen der internationalen Rechtsordnung scharf zu trennen. Wir werden, wie gross auch die Sehnsucht unseres Volkes nach Frieden ist, nur eine Friedensvermittlung versuchen, wenn wir von beiden kriegsführenden Parteien ersucht werden. In der Frage der Schaffung einer internationalen Rechtsordnung sind wir gänzlich frei. Im Utrechter Frieden wurde auf das Gleichgewicht der Staaten abgestellt. Im Jahre 1815 wurde die heilige Allianz gegründet, die sich aber hauptsächlich reaktionär erwies. Um die Folgen eines allgemeinen Krieges zu vermeiden, schlug der russische Kaiser 1898 eine Friedenskonferenz vor. Diese Konferenz fand 1899 statt, lit aber unter der Skepsis der Regierungen; ihre Ergebnisse waren unbefriedigend, ebenso die Konferenz von 1907. Die Abrüstungsfrage wurde nicht erledigt, und die Schiedsgerichtsfrage wurde nicht befriedigend gelöst. Die Staaten sichten sich der Bindung zu entziehen, um die Souveränität uneingeschränkt zu erhalten. Der Konkurrenzkampf zwischen den europäischen Staaten führte dann zu dem fürchterlichen Kriege. Neben den europäischen Staaten stehen aber auch die Staaten der andern Weltteile. Die Idee der Gründung eines Völkerbundes und einer internationalen Rechtsordnung ist mächtig geworden. Kein Staat wie die Schweiz hat ein so grosses Interesse, zu dieser Frage Stellung zu nehmen und für sie einzutreten. Als kleiner Staat müssen wir alles begrüssen, was zur Sicherung der zwischenstaatlichen Rechtsordnung geschieht. Es ist aber nicht bloss das Interesse unseres Landes, sondern der ganzen Welt, das in Frage steht. Wir wollen aber dabei den Boden der Wirklichkeit nicht verlassen. Wir können einem solchen Volksbund nur beitreten, wen unsere Existenz und unsere Eigenart gesichert bleibt. Die Stärkung des Rechts- und Friedensgedankens ist für die Schweiz ein hohes Ideal und ist für die Schweiz nichts Neues. Unser Vaterland ist uns deswegen so teuer, weil es verschiedene Rassen und Sprachen in sich vereinigt. Bisher ist es uns gelungen, die verschiedenen Gegensätze unseres Landes zu gemeinsamer Arbeit zu vereinigen. Wir wollen diese geschichtliche Mission weiterführen! Die Gründung der internationalen Rechtsordnung hat die Billigung vieler bedeutender Staatsmänner gefunden. In verschiedenen Staaten haben sich Kommissionen und Gelehrte mit der Aufgabe befasst. Unser Rechtskonsulent Herr Professor Max Huber wird das Material sichten und der Kommission seine Ergebnisse vorlegen. Dabei wird in Aussicht genommen: Die Streitigkeiten rechtlicher Natur sollen durch Schiedsgerichte erledigt werden. Für weitergehende Konflikte soll eine Vermittlungsinstanz geschaffen werden. Die Vollziehung der Sprüche dieser Instanz ist die grösste Schwierigkeit. Es können für die Staaten gewisse Grundrechte geschaffen werden, so der Anspruch auf freie Zuflucht zum Meere. Die Schweiz muss ihren Teil an der Lösung dieser idealen Aufgabe beitragen.