dodis.ch/42861 Der schweizerische Gesandte in Berlin, A. Roth, an den Vorsteher des Handels-, Industrie- und Landwirtschaftsdepartementes, A. Deucher1

Konfidentiell

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Baron von Richthofen, hat mich gestern abend telephonisch ersucht, ihn in seiner Wohnung zu besuchen, da er wünsche, sich mit mir vertraulich über die dermalige Situation betreffend unsere Handelsvertrags-Unterhandlungen zu besprechen.

Dieser Einladung habe ich natürlich Folge geleistet und beeile mich nun, Ihnen über den Verlauf und das Ergebnis meiner Besprechung mit demselben folgendes zu berichten:

Baron von Richthofen begann diese damit, dass er mir in aller Offenheit bekannte, wie unangenehm die an Minister von Bülow in Bern gerichtete Note vom 22. Januar dieses Jahres2, betreffend das Ergebnis der Frankfurter Besprechungen3, das Auswärtige Amt berührt habe, und zwar sowohl mit Rücksicht auf die wenig verbindliche Redaktion der darin enthaltenen Mitteilungen, als auch, materiell genommen, deswegen, weil man hier geglaubt habe, erwarten zu dürfen, man werde sich in Bern zum mindesten der Mühe unterziehen, wenigstens auf diejenigen Hauptpunkte detailliert einzugehen, betreffend welche noch erhebliche Differenzen bestehen.

Die gedachte Note sei so allgemein abwehrend gehalten, dass man sich eigentlich hier habe fragen müssen, ob wir nicht damit überhaupt den Abbruch der Verhandlungen in die Wege leiten wollten, und man wisse wirklich nicht recht, was nun weiter geschehen soll. Wenn der Bundesrat die in Frankfurt deutscherseits in Aussicht gestellten Konzessionen als völlig unbefriedigend bezeichne, so gebe er, Baron von Richthofen, mir zu bedenken, dass mit den in Frage stehenden Eröffnungen des Herrn von Koerner das letzte Wort ja noch nicht gesprochen gewesen sei; ein solches etappenweises Vorgehen liege ja in der Natur derartiger Unterhandlungen. Ein weiteres Eingehen auf die bestehenden Differenzen, mit der Absicht, sie möglichst auszugleichen und zu heben, würde nunmehr aber dem Auswärtigen Amt nur unter der Bedingung möglich sein, dass wir das Versäumte nachholen und uns nachträglich noch über jeden einzelnen streitigen Punkt näher vernehmen lassen, beziehungsweise die letzte Note des Herrn von Bülow zum Gegenstände einer einlässlichen Rückäusserung machen. Hierfür müssten jedoch wir die Initiative ergreifen, unsere Antwort an Herrn von Bülow sei so gehalten, dass man deutscherseits nicht in der Lage sei, auf sie ohne weiteres zu reagieren. Er, Baron von Richthofen, nehme trotz allem an, dass auch wir Wert auf das Zustandekommen eines Vertrages legen, und da möchte er mich doch noch darauf aufmerksam machen, dass unsere Stellung als unterhandelnder Teil sich wesentlich günstiger gestalte, wenn wir bald zu einer Verständigung gelangen, als wenn die Reihe erst an uns komme, nachdem Deutschland mit verschiedenen ändern Staaten Verträge abgeschlossen haben werde.

Bei dieser Unterredung hatte Baron von Richthofen die beanstandete Note an Herrn von Bülow vor sich liegen und citierte successive die bemängelten Stellen derselben, mit dem Beifügen, er habe die Note im Interesse der Sache dem Reichskanzler noch gar nicht vorgelegt.

In Erwiderung auf diese verschiedenen gravamina des Staatssekretärs betonte ich namentlich, wie eben der Bundesrat mit Rücksicht auf die schweizerischen Interessen nur zu Abmachungen Hand bieten könne, bei denen die schweizerischen Forderungen bis zu einem gewissen, als unerlässlich scheinenden Minimum Berücksichtigung finden und die von ihm zu machenden Konzessionen nicht unter ein von ihm wohlerwogenes Maximum herabgedrückt werden; er habe nach dieser Richtung auch gegenüber der Bundesversammlung gebundene Hände, denn diese werde einem neuen Vertrage nur unter der Bedingung zustimmen, dass unsern Hauptforderungen in erheblich weitgehenderer Weise entsprochen werde, als es bis jetzt in Aussicht gestellt worden sei, und dass in den von uns zu machenden Konzessionen unsern Interessen hinlänglich Rechnung getragen werde.

Über die Redaktion der in Frage stehenden Note glitt ich tunlichst hinweg, vermag ich doch selbst, offen gestanden, sie nicht als einwandfrei aufzufassen. Von der Annahme, es habe in der Absicht des Bundesrats gelegen, den Abbruch der Verhandlungen in die Wege zu leiten - sagte ich weiter - könne natürlich im Ernste nicht die Rede sein; ich glaube im Gegenteil, annehmen zu dürfen, dass man in Bern gerne bereit sein werde, zu der Wiederaufnahme derselben dadurch Hand zu bieten, dass man dem Verlangen des Auswärtigen Amts nach genauer Formulierung unserer Forderungen entspreche. Es handle sich nun einfach darum, hierfür den richtigen Weg zu finden.

Den übrigen Teil meiner Vernehmlassung auf oben erwähnte Aussetzungen des Staatssekretärs kann ich füglich unerwähnt lassen.

Über die vom Staatssekretär gestellte Frage «Und was nun?» unterhielten wir uns hierauf in der eingehendsten Weise und sind dann nach Abwägung des pro et contra der verschiedenen besprochenen Auswege schliesslich dazu gekommen, für die Weiterführung der vertraulichen Beratungen folgenden modus procedendi in Aussicht zu nehmen:

Der Staatssekretär erklärt sich bereit, einige der deutschen Unterhändler für die gegenwärtig in Rom stattfindenden Verhandlungen mit Italien (z.B. die Herren von Koerner, Wermuth und Johannes) zu beauftragen, sich anlässlich der in etwa acht bis zehn Tagen erfolgenden Rückreise von Rom nach Bern zu begeben und dort mit den Herren Eichmann, Frey und eventuell auch mit Herrn Künzli die Unterhandlungen auf Grund der Frankfurter Besprechungen weiter zu führen. Bis dann müssten aber seitens Ihres Departements die hier vermissten einlässlichen Gegenvorschläge auf die Frankfurter Verhandlungen ausgearbeitet werden, so dass man sofort nach der Ankunft der gedachten deutschen Herren in Bern in médias res eintreten könnte.

Einen solchen Auftrag könnte jedoch Baron von Richthofen mit Rücksicht auf die durch die beanstandete Note an Herrn von Bülow geschaffene Sachlage nur unter der Bedingung erteilen, dass ich ihm in Ihrem Aufträge, wenn auch nur mündlich, einen diesbezüglichen Vorschlag mache, und dass, sofern Sie sich dafür entschliessen, Sie mich hierzu auf telegraphischem Wege ermächtigen, damit nicht unnütz Zeit verloren geht.

Soweit ich die Situation zu beurteilen vermag, möchte ich dem h. Bundesrat dringend empfehlen, auf diesen Vorschlag einzugehen. Wir vergeben uns dadurch in gar nichts und machen uns in unserm Bestreben, eher eine dilatorische Stellung einzunehmen, keiner Inkonsequenz schuldig. Was man von uns verlangt, ist einzig, dass weiter versucht werde, eine annehmbare Basis für die weitern offiziellen Verhandlungen zu schaffen. Dabei ist unter anderm nicht ausser Acht zu lassen, dass wir mit unserer Zurückhaltung schliesslich doch, wie man zu sagen pflegt, «zwischen Stuhl und Bänke» fallen könnten. Nach Mitteilungen von Baron von Richthofen haben sich nämlich die deutschen Unterhändler demnächst auch nach Brüssel zu begeben; ebenso stehen die Vorbesprechungen mit Österreich-Ungarn in Sicht, und so müssten wir immerhin mit der Eventualität rechnen, dass die deutschen Unterhändler sich für noch längere Zeit überhaupt gar nicht mehr zu unserer Verfügung stellen könnten.

Auch der Umstand, dass unsere Verhandlungen mit Italien Anfang März beginnen sollen, kann mich nicht bestimmen, die Annahme des Vorschlags des Freiherrn von Richthofen als nicht tunlich ins Auge zu fassen, denn man darf füglich annehmen, dass die projektierten pourparlers in Bern nur kurze Zeit in Anspruch nehmen werden, und dass, wenn auch der Beginn der Unterhandlungen in Rom um einige Tage hinausgeschoben werden müsste, dies kaum ernstliche nachteilige Folgen nach sich ziehen und diese kleine Verschiebung in Rom sicherlich nicht auf Widerstand stossen würde.

Auch aus allgemein politischen Gründen möchte ich Ihrem Eingehen auf den Vorschlag des Staatssekretärs das Wort reden. Bei den vortrefflichen Beziehungen zu der Kaiserlichen Regierung und in Anbetracht des Entgegenkommens, dem wir bei ihr im allgemeinen immer begegnen, haben wir allen Grund, die Verstimmung, die die Note an Herrn von Bülow hier hervorgerufen, ohne zwingenden Grund nicht noch zu verschärfen.

Ich schliesse, indem ich den von Freiherrn von Richthofen in Anregung gebrachten Ausweg Ihrer wohlwollenden Erwägung unterbreite und Ihnen aus voller Überzeugung empfehle, dem h. Bundsrat zu beantragen, ich möchte ermächtigt werden, und zwar auf telegraphischem Wege, dem Staatssekretär den Vorschlag zu machen, es seien einige der zur Zeit in Rom sich aufhaltenden deutschen Handelsvertrags-Delegierten zu beauftragen, anlässlich ihrer für die allernächste Zeit in Aussicht stehenden Rückreise nach Deutschland in Bern vorzusprechen, um an der Hand des von Ihrem Departement inzwischen auf Grund der Frankfurter Besprechungen ad hoc weiter und einlässlicher auszuarbeitenden Materials die Zwischenverhandlungen weiter zu führen und zu fördern.

1
Schreiben: E 13 (B)/161.
2
Nr. 3.
3
Vgl. Nr. 7.