dodis.ch/35601 Notiz des Chefs des politischen Diensts Ost des Politischen Departements, H. Miesch1

AUFZEICHNUNG ÜBER EINE BESPRECHUNG VOM 7. SEPTEMBER 1970 ZUR FRAGE DER ALLFÄLLIGEN AUFNAHME VON DIPLOMATISCHEN BEZIEHUNGEN MIT HANOI

1. An der Aussprache nehmen teil die Herren Botschafter Probst, Schnyder, Rossetti und Hartmann sowie der Unterzeichnete.

2. Es sei zunächst in Erinnerung gerufen, dass im Bericht des Bundesrates über die Richtlinien für die Regierungspolitik auch zum Problem der geteilten Staaten Stellung genommen wird2. Danach ist die Universalität unserer Beziehungen Ausfluss unserer Neutralitätspolitik. Besondere Probleme stellen sich dabei im allgemeinen lediglich in Bezug auf jene Staaten, die geteilt sind3. Weil die rechtliche Situation dieser Staaten oft unsicher ist, gilt es, in diesen Fällen pragmatisch vorzugehen, um schrittweise die Natur unserer gegenseitigen Beziehungen näher zu bestimmen.

Es bedeutet dies u. a., dass jeder Fall geteilter Staaten nach seinen beson deren Umständen und unter Berücksichtigung der involvierten schweizerischen Interessen unabhängig von den andern behandelt werden kann. Es könnten also mit Hanoi diplomatische Beziehungen aufgenommen werden, ohne dass gleichzeitig dasselbe mit Nordkorea oder der DDR zu ge sche hen braucht.

3. Bei der Besprechung wurde davon ausgegangen, dass das Vietnam-Problem gegenwärtig als etwas abgekühlt erscheint: keine namhaften Demonstrationen im In- und Ausland, reduzierte kriegerische Tätigkeit in Vietnam, geplanter allmählicher Rückzug der amerikanischen Truppen. Der Augenblick erscheint daher nicht ungünstig, um unsere Beziehungen zu Hanoi auf eine neue Grundlage zu stellen. Unser Vorgehen könnte unter ganz anderen Vorzeichen erfolgen als das Vorprellen der Schweden. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass neuere Berichte unserer Botschafter in Asien (insbesondere Nr. 7 vom 27. August4 von Botschafter Hartmann) eher der Auffassung zuneigen, dass im Augenblick Hanoi nicht an einer konferenziellen Bereinigung des Indochina-Problems interessiert ist. Ein Schritt unsererseits gegenüber Hanoi würde daher wohl im Anfang ebenso wirkungslos bleiben wie derjenige Schwedens.

4. Nach Auffassung von Botschafter Schnyder könnte mit der Aufnahme diplo matischer Beziehungen zu Hanoi unsere Neutralität und Neutralitätspolitik in vermehrtem Masse zur universell anerkannten und akzeptierten Idee gemacht werden, was zur Zeit nicht ganz zutrifft. Im Gegensatz zu den Schweden können wir handeln, ohne unter dem Druck der Öffentlichkeit zu stehen, was unserem Verhalten mehr Glaubwürdigkeit verleiht. Es müsste von Anfang an klar sein, dass unserem Vorstoss nicht eine politische Stellungnahme, sondern eine rein praktisch humanitäre Idee zu Grunde liegt5, d. h. wir wollen damit unsere Disponibilität mit praktischen Schritten untermauern. Dies müsste den Nordvietnamesen eindrücklich dargelegt werden und es sollten gewisse vermehrte Aussichten dafür bestehen, dass wir die angestrebte Rolle spielen können. Es gilt dies zunächst mit Bezug auf das Kriegsgefangenenproblem. Das internationale Interesse daran hat in der letzten Zeit an Gewicht gewonnen. Für eine solche Rolle ist das gegenwärtige Vehikel der Kontakte auf dem Niveau der Aussenministerien mit gelegentlichen Besuchen in Hanoi nicht genügend. Wir sollten an Ort und Stelle ein Büro haben.

Was ist akzeptabel von Amerika aus gesehen? Gerade die Präsentation unter mehr praktisch-humanitären Gesichtspunkten würde in Amerika verfangen. Trotzdem das schwedische Vorgehen zu einer Misstimmung im Verhältnis zu den USA geführt hat, war die amerikanische Reaktion nach Auffassung Botschafter Schnyders bemerkenswert gelassen.

Besonders kritisiert wurden das materielle schwedische Hilfsversprechen an Nordvietnam, das zunächst vollumfänglich ab sofort gelten sollte, dann aber für die Zeit des fortdauernden Krieges auf humanitäre Hilfe umgestellt wurde. Bei aller Kritik sind jedoch die Amerikaner daran interessiert, inwieweit die Schweden ihnen in Nordvietnam behilflich sein können. Diese Frage wurde anlässlich des Besuches Palmes in den USA aufgeworfen. Wir sind in dieser Beziehung etwas aus dem Rennen gekommen.

Eine neue Reise Botschafter Rossettis hätte nach Ansicht Botschafter Schnyders nur dann einen Sinn, wenn wir einen Schritt vorwärts machen können. Die Amerikaner wären am Tage der Abreise Rossettis über den Zweck seiner Mission, insbesondere über die praktisch-humanitären Aspekte zu unterrichten, jedoch keinesfalls vorher zu konsultieren. Es kommt gegenüber den Amerikanern auf zweckmässige Form und günstigen Zeitpunkt an.

Gegenüber Südvietnam müsste darauf geachtet werden, dass das Gleichgewicht hergestellt wird.

5. Botschafter Rossetti legt dar, dass Schweden in Hanoi einen schweren Stand habe, nachdem sein Schritt hauptsächlich aus innenpolitischen Moti - ven erfolgt sei und daher nicht ganz für bare Münze genommen werde. Die Dänen und Norweger haben sich vom schwedischen Programm distanziert. Es sei diesbezüglich auf seine (Rossettis) Berichte zu diesem Thema ver - wiesen6. Ein Entschluss unsererseits zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen könnte daher in ein günstiges Licht gesetzt werden. Ein dritter Besuch, nur um die bisherige humanitäre Hilfe zu verkaufen, die zwischen den Rot kreuz gesellschaften der beiden Länder sich reibungslos abwickle, habe keinen Sinn.

Von chinesischer Seite wurden Botschafter Rossetti gewisse Anspielungen gemacht, wonach Peking bereit wäre, an jeder Konferenz teilzunehmen, die nicht zum vorneherein von den Supermächten diktiert bzw. vorbereitet würde. Man sei bereit, nach Genf zu kommen. Konkretere Hinweise gibt es natürlich nicht, aber wir scheinen gewisse Chancen zu haben. Hanoi allerdings würde sich weigern, nach Genf zu kommen, wenn wir mit ihm keine geregelten Beziehungen unterhalten. Andererseits ist es natürlich keineswegs sicher, dass es zu einer Genferkonferenz kommen wird7.

Die Frage der Zulassung des IKRK im Zusammenhang mit der Kriegs gefangenenfrage kann nach Auffassung Botschafter Rossettis wohl erst in einem späteren Stadium aufgegriffen werden. Dem pflichtet Botschafter Hartmann bei, nach dessen Auffassung das IKRK im Augenblick unpopulär ist. Es besteht noch die Idee, das IKRK stehe wesentlich unter dem Einfluss der USA. Man müsste erst Wesen und Rolle des IKRK überzeugend erklären können. Unser Vertreter wird sich aber um humanitäre Fragen kümmern können, deren sich das IKRK zur Zeit nicht annehmen kann.

6. Was die Auswirkungen auf die anderen geteilten Staaten anbetrifft, so kann nach Auffassung Botschafter Probsts die DDR ausgeklammert werden, da hier ganz besondere Verhältnisse vorliegen. Hingegen sind die Fälle Vietnam und Korea vergleichbar. Sie müssen aber aus folgenden Gründen unterschiedlich behandelt werden.

Im Falle des geteilten Korea müssen wir auf unsere relativ bedeutenden wirtschaftlichen Interessen in Südkorea8 Rücksicht nehmen. Dieses Land erlebt jetzt einen Boom, wobei allerdings darauf geachtet werden muss, dass dieser nicht schliesslich überzogen wird und zu einem Zusammenbruch führt. Die schweizerischen Exporte nach Südkorea sind stark im Wachsen begriffen und das Land bildet insbesondere auch für das ERG-Bundesengagement einen Risikofaktor. Dieses Engagement hat 1969 die 100 Mio.-Grenze überstiegen, ist aber inzwischen auf ein erträgliches Mass zurückgebildet worden. Ganz abgesehen davon, vertritt heute Südkorea eine Hallstein-Doktrin im Gegensatz zu uns früher gemachten Erklärungen, wonach Seoul einverstanden war, dass wir auch mit Nordkorea Beziehungen aufnehmen9. Es ist daher mit politischen und wirtschaftlichen Komplikationen zu rechnen, wenn wir mit Nordkorea zu rasch voranschreiten.

Nordkorea ist wirtschaftlich für die Schweiz von untergeordneter Bedeutung10, sowohl was den Warenaustausch als auch die ERG anbetrifft. Die Nordkoreaner haben auch noch nicht von der ihnen gebotenen Möglichkeit zur Eröffnung eines privaten Handelsbüros in Zürich11 Gebrauch gemacht. Angesichts dieser Situation muss daher die Aufnahme geregelter Beziehungen mit Nordkorea noch möglichst lange hinausgezögert werden12.

Was die beiden Vietnam anbetrifft, liegen die Verhältnisse ganz anders. Das wirtschaftliche Engagement der Schweiz ist in beiden Fällen von untergeordneter Bedeutung. Weder im Süden noch im Norden ist man der Hallstein-Doktrin verpflichtet.

Die Botschafter Schnyder und Rossetti halten dazu noch fest, dass die Reaktion Amerikas im Falle der Aufnahme von Beziehungen Schweiz–Nordkorea viel heftiger sein würde, als im Falle Nordvietnam.

7. Einigkeit besteht darüber, dass im Falle eines schweizerischen Schrittes gegenüber Hanoi13 auf die Herstellung eines diplomatischen Gleichgewichts zwischen Nord und Süd geachtet werden muss. Wir können dem Süden nicht weniger geben als dem Norden. Botschafter Schnyder denkt an eine ständige Präsenz im Norden, Botschafter Rossetti sieht die Lösung eher in vermehrten Reisen seiner selbst sowie seiner Mitarbeiter, wenn er einmal akkreditiert sein wird. Die Botschaft Peking müsste dann um eine Einheit verstärkt werden.

8. Wenn etwas geschehen soll, dann möglichst rasch. Abzuklären ist vordringlich die verfassungsmässige Kompetenz des Bundesrates.

Mit der voranschreitenden Vietnamisierung des Krieges ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass auch Südvietnam in Zukunft eine Art Hallstein-Doktrin entwickeln wird.

1
Notiz: CH-BAR#E2001E#1980/83#4478* (B.15.11). Kopien an P. Micheli, E. Thalmann, F. Schnyder, R. Probst, O. Rossetti, R. Hartmann, A. Janner, A. Natural und F. Châtelain.
2
Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Richtlinien für die Regierungspolitik in der Legislaturperiode 1968–1971 vom 15. Mai 1968, BBl, 1970, I, S. 1204–1248, bes. S. 1207 f.
3
Zur Frage der geteilten Staaten vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 4, dodis.ch/35862 und Dok. 123, dodis.ch/35861.
4
Politischer Bericht Nr. 7 von R. Hartmann an P. Graber vom 27. August 1970, CH-BAR#E2300-01#1977/28#88* (A.21.31).
5
Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 70, dodis.ch/35607 sowie DDS, Bd. 25, Dok. 149, dodis.ch/35604.
6
Vgl. den Bericht von O. Rossetti vom 20. Februar 1968, dodis.ch/32183 sowie den Bericht von O. Rossetti an W. Spühler vom 18. Juni 1969, dodis.ch/32185.
7
Zu den Bemühungen, Genf als Ort für die Friedensverhandlungen zu positionieren, vgl. DDS, Bd. 24, Dok. 83, dodis.ch/32172.
8
Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 22, dodis.ch/32486, sowie DDS, Bd. 25, Dok. 153, dodis.ch/35785. Allgemein zu den Beziehungen zu Südkorea vgl. die Berichte von M. Leu vom 1. Mai 1972, dodis.ch/36017 sowie dodis.ch/36018.
9
Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 169, dodis.ch/33133.
10
Zu den Wirtschaftsbeziehungen mit Nordkorea vgl. z. B. die Notiz von P.-A. Ramseyer vom 27. März 1972, dodis.ch/36019. Für eine Gegenüberstellung des Aussenhandels mit den geteilten Staaten vgl. die Notiz von R. Baumgartner vom 1. Februar 1972, dodis.ch/34383.
11
Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 152, dodis.ch/35835, Anm. 5.
12
Zur möglichen Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit Nordkorea vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 164, dodis.ch/35836 und Dok. 168, dodis.ch/35837.
13
Zu den Beziehungen der Schweiz zu Nordvietnam vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 4, dodis.ch/35862 und Dok. 90, dodis.ch/35603.