dodis.ch/35415
BUNDESRAT
Beschlussprotokoll II der Sitzungen vom 7. September 19701

FLUGZEUGENTFÜHRUNG2 DC-8 SWISSAIR

Sitzung des Bundesrates vom 7. September 1970, 8 Uhr

Herr Bundespräsident Tschudi gibt Kenntnis davon, dass seit der Sitzung3 vom Sonntagabend nun im Verlaufe der Nacht das erwartete Ultimatum der Volksfront für die Befreiung Palästinas eingetroffen ist. Der Bundesrat muss sich deshalb ohne Verzug mit der Angelegenheit befassen und entscheiden, was weiter geschehen soll.

Herr Graber orientiert den Rat über den Inhalt des Ultimatums, das der Delegierte4 des IKRK in Amman über die IKRK-Vertretung in Beirut dem Roten Kreuz in Genf mitgeteilt hat und das Herr Rochat im Auftrage des IKRK-Präsidenten Naville an Herrn Minister Gelzer im Politischen Departement durchgegeben hat5. Die Wortführer der Volksfront für die Befreiung Palästinas haben eine Frist von 72 Stunden gesetzt, innert welcher die drei in der Schweiz inhaftierten Palästinenser6 (Attentäter von Kloten7) befreit werden sollen, wogegen die sofortige Freilassung der beiden Flugzeuge von Zerqa und aller Passagiere zugesichert wird. Die Vertreter des IKRK wurden bereits ermächtigt, die Flugzeuge zu besichtigen und mit den Passagieren Kontakt aufzunehmen. Herr Graber stellt fest, dass sich damit eine Entwicklung abzeichnet, die in den grossen Zügen dem entspricht, was man erwarten musste.

Der Rat bespricht diese neue Situation, wobei in der ersten Phase seiner Verhandlungen auch die Herren Bundesanwalt Walder und Direktor Guldimann vom Luftamt teilnehmen. Zur Diskussion steht vorweg die Frage des weiteren Vorgehens, insbesondere aber auch die Koordinierung der Anstrengungen mit dem Regierungsrat des Kantons Zürich. Es wird festgestellt, dass die Freilassung der Häftlinge in Zürich praktisch anlässlich der Besprechung8 mit den Vertretern der Zürcher Regierung schon in der vorangehenden Woche in Aussicht genommen worden ist. In erster Linie hat nun aber doch der Regierungsrat des Kantons Zürich den formellen Freilassungsbeschluss zu fassen, wonach der Bundesrat diesem seine Zustimmung erteilt. Angesichts der Drohung, dass die Flugzeuge vernichtet und die Insassen solange zurückbehalten werden, bis die Forderungen der Volksfront für die Befreiung Palästinas erfüllt sind, und angesichts der Tatsache, dass nach Meldungen aus anderen beteiligten Staaten diese Drohungen ernst zu nehmen sind, ja dass sogar mit einer Bedrohung des Lebens der Passagiere zu rechnen ist, erscheint es dem Bundesrat richtig, den Forderungen der Volksfront für die Befreiung Palästinas raschmöglichst im Grundsatz zuzustimmen, damit die Auslieferung der Häftlinge von Zürich unter Freilassung der Passagiere in Zerqa innerhalb der Frist von 72 Stunden bewältigt werden kann. Herr Bundespräsident Tschudi nimmt in diesem Sinne mit dem Regierungsrat des Kantons Zürich, der gleichzeitig ebenfalls tagt, Fühlung. Die Sitzung wird in dieser Zeit unterbrochen.

Bei Wiederaufnahme der Verhandlungen teilt Herr Bundespräsident Tschudi mit, dass der Regierungsrat des Kantons Zürich bereit ist, die Palästinensischen Häftlinge freizulassen unter den drei folgenden Bedingungen:

a) Freigabe der beiden in Zerqa gelandeten Maschinen, mitsamt den Passagieren

b) Übernahme des Transports der Häftlinge durch den Bundesrat und

c) Abgabe einer Erklärung des Bundesrates, dass solch ein Vorgehen allen Prinzipien unserer Rechtsordnung widerspricht und dass man sich nur unter Protest dem brutalen Zwang fügt.

Der Rat ist mit diesen Vorschlägen des Regierungsrates des Kantons Zürich einverstanden, die Bundeskanzlei wird beauftragt, den Entwurf zu einem Communiqué auszuarbeiten und diesen mit der Regierung des Kantons Zürich zu besprechen, damit völlige Einigkeit herrscht. Diesem Auftrag wird entsprochen, was wiederum zu einem kurzen Unterbruch der Sitzung führt.

Um 12 Uhr setzt der Rat die Verhandlungen fort. Dem von der Bundeskanzlei mit der Regierung des Kantons Zürich bereits bereinigten Communiqué wird grundsätzlich zugestimmt, mit dem Auftrag jedoch, noch eine redaktionelle Umgestaltung vorzunehmen. Diese wird von der Bundeskanzlei besorgt, desgleichen die Übersetzung des Textes, der in beiden Sprachen nach 14 Uhr der Presse abgegeben werden soll.

In diesem gleichen letzten Teil der Sitzung gibt der Bundeskanzler9 Kenntnis von einer eben eingetroffenen Agenturmeldung, wonach die Volksfront für die Befreiung Palästinas nun ihre Forderungen erweitert und nebst den in Zürich festgehaltenen Attentätern von Kloten auch die Freigabe der Attentäter von München10 und von London11 verlangt sowie die Herausgabe sämtlicher Feddayins, die in israelischer Gefangenschaft sind. Der Rat nimmt von diesen erweiterten Forderungen Kenntnis, stellt aber fest, dass sie nicht in Betracht gezogen werden können, da es sich lediglich um eine unbestätigte und im ganzen noch sehr unpräzise Pressemeldung handelt. Über das Rote Kreuz, das die Volksfront für die Befreiung Palästinas selbst als Vermittler angerufen hat, ist dem Bundesrat keine Mitteilung dieser Art zugegangen. Es wird deshalb beschlossen, an der bedingt erklärten Annahme des offiziellen Ultimatums festzuhalten und in diesem Sinne die Presse zu informieren.

Der Rat nimmt gleichzeitig davon Kenntnis, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz im Verlaufe des Nachmittags eine Plenarsitzung abhält, um darüber zu entscheiden, ob es das Mandat des Bundesrates zur Leitung des Austausches annehmen will. Man erwartet gegen den Abend weitere Nachrichten.

Das vom Rat genehmigte und um 15 Uhr der Presse bekanntgegebene Communiqué lautet wie folgt:

Der Bundesrat hat sich am 7. September in einer weiteren Sitzung mit den Flugzeugentführungen vom Vortage befasst.

Im Verlaufe der Nacht ist ihm durch die Vermittlung des IKRK gemeldet worden, dass die Volksfront zur Befreiung Palästinas (FPLP) bereit sei, die beiden entführten Flugzeuge (Swissair- und TWA-Maschine) mitsamt den Passagieren freizugeben, wenn die drei in der Schweiz inhaftierten Attentäter von Kloten freigelassen werden.

Der Bundesrat hat ferner von einem inzwischen gefassten Beschluss der Regierung des Kantons Zürich Kenntnis genommen, die sich dem Zwang der Verhältnisse beugt und bereit ist, der Forderung der palästinensischen Organisationen unter den genannten Bedingungen zu entsprechen, um das Leben der Passagiere der beiden Flugzeuge nicht noch grösseren Gefahren auszusetzen.

Der Bundesrat billigt den Entscheid des Regierungsrates des Kantons Zürich. Er hat inzwischen das IKRK ersucht, die Verhandlungen für den Austausch zu führen. Ferner hat er das Luftamt beauftragt, in Verbindung mit der Swissair die technischen Probleme des Austauschs zu regeln. Die entsprechenden Vorkehren sind sofort an die Hand genommen worden.

Mit der Regierung des Kantons Zürich ist der Bundesrat über das den schweizerischen Behörden gestellte Ultimatum empört und erschüttert. Er legt Wert auf die Feststellung, dass solche Praktiken jeglicher Rechtsordnung widersprechen und den internationalen Flugverkehr und die Rechtssicherheit ganz allgemein aufs schwerste gefährden.

[…] 12

Sitzung vom 7. September 1970, 18 Uhr

Um 18 Uhr trifft sich der Rat zur Fortsetzung der Verhandlungen. Herr Graber orientiert über die Pressekonferenz, die seines Erachtens gut verlaufen ist, wobei aber festgestellt werden musste, dass leider das Communiqué mehr im Vordergrund stand als die Kommentare, die Herr von Moos und er selbst (Herr Graber) über die weitere Entwicklung abgegeben haben. Die Nachrichten vom IKRK sind, wie der Chef des EPD weiter ausführt, insofern etwas enttäuschend, als das Komitee eher einen diplomatischen Vertreter in den Vordergrund stellen möchte. Über das Schicksal der Passagiere liegen sehr unterschiedliche und einander widersprechende Meldungen der verschiedenen Nachrichtenagenturen vor. Jedenfalls besteht völlige Ungewissheit darüber, ob ein Teil der Passagiere – namentlich Frauen und Kinder – wirklich nach Amman überführt worden sind. Das Politische Departement hat ferner im Verlaufe des Nachmittags die diplomatischen Vertreter Grossbritanniens13, der USA14 und der Bundesrepublik15 zitiert und mit ihnen die Möglichkeit einer gemeinsamen Aktion besprochen16, insbesondere auch die Möglichkeit eines gemeinsamen Schrittes beim IKRK, das von den drei zitierten Ländern und der Schweiz gemeinsam beauftragt werden sollte, den Austausch der Häftlinge gegen die Gesamtheit der Passagiere und die beiden Flugzeuge in die Wege zu leiten. Das IKRK wartet im Moment noch ab, ob ihm die vier Länder ein gemeinsames Gesuch stellen.

In der folgenden Aussprache wird von der Zurückhaltung des IKRK mit etwelcher Enttäuschung Kenntnis genommen. Es wird festgestellt, dass es sich hier um eine Aufgabe handelt, die vorzüglich in den Arbeitsbereich des IKRK gehört und deshalb von ihm übernommen werden sollte. Bezüglich der Bedingungen des Austausches wird nochmals unterstrichen, dass nur eine Globallösung in Frage kommt, d. h. nur ein Vorgehen, bei dem von Seiten der Volksfront für die Befreiung Palästinas die Gesamtheit der Insassen der beiden Flugzeuge herausgegeben wird.

Der Bundeskanzler wird ermächtigt, der Presse über diese Aussprache des Rates eine mündliche Orientierung abzugeben.

1
BR-Beschlussprot. II: CH-BAR#E1003#1994/26#13*. Verfasst von W. Buser.
2
Für eine Chronologie der Ereignisse vgl. die Notiz von F. Moser vom 7. Oktober 1970, dodis.ch/35431. Für eine Übersicht und Diskussion der Ereignisse und des Vorgehens des Bundesrats vgl. das Protokoll vom 25. September 1970 der Sitzung der Aussenpolitischen Kommissionen des National- und Ständerats vom 15. September 1970, dodis.ch/35428; die Notiz von E. Diez, vom 30. Oktober 1970, dodis.ch/35432; die Notiz des Politischen Departements vom 6. November 1970, dodis.ch/35429 sowie die Beantwortung der Interpellation von G.A. Chevallaz und A. Lusser durch den Bundesrat am 8. Oktober 1970 vgl. Amtl. Bull., NR, 1970, S. 654–665 und Amtl. Bull., SR, 1970, S. 369–393.
3
Vgl. dazu das BR-Beschlussprot. II vom 15. September 1970 der Sitzung vom 6. September 1970, Doss. wie Anm. 1.
4
G. Winteler.
5
Vgl. dazu die Notiz von M. Gelzer an P. Graber vom 7. September 1970, dodis.ch/35438.
6
M. Abu al-Heiga, A. Dahbor und I. T. Yousef.
7
Zum Attentat der Volksfront für die Befreiung Palästinas auf ein El Al Flugzeug in Kloten am 18. Februar 1969 vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 11, dodis.ch/35442, Anm. 2.
8
Vgl. dazu die Notiz von M. Gelzer vom 31. August 1970, dodis.ch/35422. Zu den Attentatsdrohungen gegen die Schweiz und die Frage der präventiven Freilassung der Täter des Attentats von Kloten 1969 vgl. das Schreiben von Ch. Gander an P. Micheli vom 16. August 1970, dodis.ch/35425; die Notiz von H. Langenbacher vom 21. August 1970, dodis.ch/35421; das Protokoll Regionalkonferenz «Arabische Staaten» vom 2. September 1970, dodis.ch/34537 sowie das BR-Beschlussprot. II vom 14. August 1970 der Sitzung vom 12. August 1970, CH-BAR#E1003#1994/26#13*.
9
K. Huber.
10
M. Hadidi, M. al-Hanafi und A. R. Saleh.
11
L. Khaled.
12
Für das vollständige Dokument vgl. dodis.ch/35415.
13
D. West.
14
R. D. Vine.
15
G. Schlegelberger.
16
Für die am Abend und nicht am Nachmittag stattfindende Sitzung vgl. die Notiz von A. Coigny vom 7. September 1970, CH-BAR#E2001E#1980/83#228* (B.11.40.1) Bd. 53.