dodis.ch/33134
Der schweizerische Botschafter in Peking, O. Rossetti, an den Vorsteher des Politischen Departements, W. Spühler1

Gestern empfing mich Vizeaussenminister Lo Kwei-po zu einer längeren Besprechung. Der Genannte, der mehrere Monate im «Landdienst»2 verbracht hat, übernahm vor einigen Wochen wieder seinen früheren Posten im Aussen ministerium. Trotz der von ihm während der Kulturrevolution verfolgten scharfen Linie ist Lo Kwei-po nicht ins Zentralkomitee gewählt worden. Früher war er unter den ersten stellvertretenden Mitgliedern und dürfte nach der Epuration des Jahres 1967 Vollmitglied geworden sein. Bei dem über 1½ Stunden dauernden Tour d’horizon kamen folgende Punkte zur Sprache.

1. Beziehungen Schweiz-China

Die Beziehungen zwischen der Schweiz und China sind ausgezeichnet. Sie wurden in den letzten Jahren durch gewisse Zwischenfälle3, die bei der chinesischen Regierung Missfallen erregt hatten, getrübt. Da aber beide Regierungen den Grundsatz der Koexistenz befolgen, sind diese Schwierigkeiten endgültig erledigt worden. Die wirtschaftlichen4 und kulturellen Beziehungen können auch in Zukunft weiterentwickelt werden, was im Interesse beider Länder liegt. Die chinesische Regierung hat ihren guten Willen gezeigt, indem sie vor zwei Wochen den frühern Botschaftsrat5 wieder nach Bern zurücksandte. Gegenwärtig ist sie daran, sämtliche Botschafterposten mit den befreundeten Ländern wieder zu besetzen, was ebenfalls als Ausdruck des guten Willens, die Beziehungen zu Westeuropa auszubauen, gewertet werden kann.

Ich unterliess es, um nicht den Eindruck eines allzu grossen Interesses zu erwecken, im einzelnen auf die Frage der Botschafterentsendung6 nach Bern einzutreten. Dagegen benützte ich die Ausführungen Lo Kwei-pos um ihn auf folgende Punkte aufmerksam zu machen:

a. Die Beziehungen zwischen unsern beiden Ländern werden immer noch getrübt durch die Tatsache, dass der Schweizerbürger Alfred Knuchel7 seit genau 1½ Jahren in Peking zurückgehalten wird. Die schweizerische Regierung würde grössten Wert darauf legen, wenn die zuständigen chinesischen Behörden diesen Fall bald erledigten und Herrn Knuchel das Ausreisevisum erteilten.

b. Um die kulturellen Beziehungen gemäss dem Wunsche der chinesischen Regierung auszubauen, sollten die zuständigen chinesischen Behörden in der Erteilung von Einreisebewilligungen für Professoren, Künstler und Journalisten etwas entgegenkommender sein. Es seien solche Gesuche anhängig und ich wäre dankbar, wenn die zuständigen Stellen im obigen Sinne angewiesen würden, diese rasch und wohlwollend zu behandeln.

Zum Fall Knuchel erklärte der Vizeaussenminister, er könne mir zuhanden der schweizerischen Regierung zusichern, dass diese Angelegenheit in raisonabler Weise und bald erledigt würde. Er werde sich des Falles annehmen und den zuständigen chinesischen Behörden die nötigen Empfehlungen erteilen.

Zur Frage von Studienreisen und dem Besuch von Journalisten erklärte er folgendes:

Gegenwärtig seien sämtliche Behörden im ganzen Lande mit der Realisierung der Erfolge der Kulturrevolution stark beschäftigt. Die Leute hätten gegenwärtig kaum Zeit, Besucher zu empfangen. Er werde auch diesen Wunsch den zuständigen Stellen übermitteln, könne mir aber für die nächsten Monate keinerlei Zusicherungen diesbezüglich geben. Ich hatte den bestimmten Eindruck, dass gegenwärtig die Reorganisation der gesamten Administration des Landes im Gange ist und dass man nicht gewillt ist, ausländische Besucher vor dem Abschluss dieser Aktion zu empfangen. Das dürfte kaum vor dem 1. Oktober der Fall sein.

2. Beziehungen zum Ausland

Die chinesische Regierung hat seit der Gründung der Volksrepublik ihre Aussenpolitik auf dem Grundsatz der friedlichen Koexistenz aufgebaut. Sie wird auch in Zukunft an diesen Prinzipien festhalten und mit jeder Regierung, die gewillt ist, nach den fünf Koexistenzpunkten zu handeln, diplomatische Beziehungen aufnehmen. Entsprechende Verhandlungen sind mit Kanada und Italien im Gange.

Eine Ausnahme bilden die Vereinigten Staaten. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat seit Truman bis zum heutigen Tage gegenüber der Volksrepublik eine feindliche Politik betrieben. Sie hat es darauf abgesehen, um China herum einen Kreis feindlich gesinnter Staaten zu organisieren. Besonders schwerwiegend ist der Umstand, dass die Vereinigten Staaten einen Teil des chinesischen Territoriums, nämlich Taiwan, besetzt halten und dort die Verrätercliqué Chiang Kai-shek unterstützen. Solange die Vereinigten Staaten sich nicht aus Taiwan und der Taiwan-Strasse zurückziehen und solange sie fortfahren, Chiang Kai-shek zu unterstützen, könne trotz allen Versicherungen von Präsident Nixon an die Aufnahme irgendwelcher konstruktiver Kontakte nicht gedacht werden. Die Vereinigten Staaten müssten durch Tatsachen und nicht durch Worte ihren guten Willen, mit China die Beziehungen normalisieren zu wollen, unter Beweis stellen.

Meine Frage, ob er eine Möglichkeit sehe, dass diejenigen amerikanischen Kreise, die die Politik der Entspannung zwischen den beiden Ländern befürworten, mit der chinesischen Regierung ins Gespräch kommen könnten, beantwortete er mit einem glatten nein. Er wiederholte, dass solange Taiwan durch die Amerikaner besetzt sei, die chinesische Regierung keine Möglichkeit sehe, mit irgendwelchen politischen oder privaten Kreisen der Vereinigten Staaten ins Gespräch zu kommen. Diese Auffassung entspricht meinen seinerzeitigen Ausführungen8 betreffend den eventuellen Besuch von Senator Kennedy.

3. Vietnam 9

Die chinesische Regierung hat eine grosse Hochachtung vor dem vietnamesischen Volk, das seit Jahren einen Kampf um seine Unabhängigkeit und Freiheit führt und das mit seinem Kampfwillen der amerikanischen Aggression standhalten konnte. Die Amerikaner hätten eingesehen, dass sie den Krieg nicht gewinnen können. Sie seien aber noch nicht bereit, ihre Truppen abzuziehen. Ebenso versuchen sie, dem südvietnamesischen Volk eine Koalitionsregierung ihrer Gnaden aufzuzwingen, was von den Vietnamesen nicht akzeptiert werden könne. Es sei sehr schwer, die Amerikaner zu veranlassen, ihre Truppen aus Südvietnam zurückzuziehen, daher könne nicht mit einer raschen Beendigung des Krieges gerechnet werden.

Ich stellte bei diesen Ausführungen eine gewisse Unsicherheit meines Gesprächspartners fest. Wohl drückte er sich ziemlich pessimistisch aus und betonte wiederholt, dass der Krieg noch lange dauern werde. Er unterliess es aber, irgendwelche scharfe Ausdrücke gegenüber den Vereinigten Staaten zu verwenden und liess die Möglichkeit offen, dass in Paris doch eine Einigung bezüglich der Koalitionsregierung gefunden werden könnte, die einen raschen Truppenabzug in Gang bringen würde. Es scheint, als habe Peking den frühern Einfluss auf Hanoi und die Front etwas eingebüsst, was meinen Eindrücken während meinen Besprechungen in Hanoi10 entspricht. Auf jeden Fall hat Lo Kwei-po es unterlassen zu unterstreichen, dass die chinesische Regierung die Vietnamesen anhalte, ihren Kampf bis zum Endsieg durchzuführen.

4. Sino-sowjetische Grenzprobleme

Lo Kwei-po gab mir eine ausführliche Erklärung über diesen Problemkomplex und bat mich, sie der schweizerischen Regierung zu unterbreiten. [...]11

1
Schreiben: E2001E-01#1982/58#2391* (B.15.21). Visiert von W. Spühler und H. Miesch. Handschriftliche Marginalie von E. Hofer: am 15. 7. 69 erhalten. Handschriftliche Marginalie von H. Miesch: Kopie hat zirkuliert.
2
Zur Kulturrevolution vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 167, dodis.ch/30917, und Dok. 175, dodis.ch/30922.
3
Vgl. z. B. DDS, Bd. 23, Dok. 175, dodis.ch/30922.
4
Zu den wirtschaftlichen Beziehungen vgl. z. B. die Notiz von L. Roches vom 17. Juli 1967, dodis.ch/30869 oder den Bericht über die Schweizerische Instrumenten- und Uhrenausstellung in Peking vom 20. Mai bis 3. Juni 1968, dodis.ch/33541.
5
Wu Hua-yuan.
6
Zur Vakanz des chinesischen Botschafterpostens in Bern vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 175, dodis.ch/30922.
7
Vgl. dazu Doss. E2001E#1980/83#1786* (B.32.11) und E2200.174#1983/84#6* (110.0).
8
Vgl. dazu das Telegramm Nr. 3 der schweizerischen Botschaft in Peking an das Politische Departement vom 22. Januar 1969, dodis.ch/33534. Zu den Sondierungen von E. M. Kennedy als Vermittler zwischen Washington und Peking vgl. die Notiz von E. Thalmann für W. Spühler vom 10. Januar 1969, dodis.ch/33533.
9
Zum Vietnamkrieg vgl. DDS, Bd. 24, Dok. 30, dodis.ch/32170 sowie Dok.75, dodis.ch/32171.
10
Zur Reise O. Rossettis nach Nordvietnam vgl. den Bericht von O. Rossetti vom 18. Juni 1969, dodis.ch/32185.
11
Für das vollständige Dokument vgl. dodis.ch/33134. Zum sino-sowjetischen Grenzkonflikt am Ussuri vgl. DDS, Bd. 24, Dok. 140, dodis.ch/32536, Anm. 7.