Die Schweiz, die Flüchtlinge und die Shoah

Die Schweiz war in mehrfacher Hinsicht mit der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis konfrontiert. Von der Machtergreifung Hitlers 1933 bis zum Kriegsende 1945 versuchten zahllose Verfolgte in der Schweiz eine zumindest vorübergehende Zuflucht zu finden. Mit Deutlichkeit tritt in der Flüchtlingsfrage zu Tage, dass sich die Schweiz den gewaltigen Entwicklungen auf dem Kontinent nicht entziehen konnte: Die politischen Verantwortungsträger standen immer wieder vor schwerwiegenden Entscheidungen.

Konferenz von Évian 1938

Schon vor dem Krieg beschäftigte die Frage der jüdischen Emigrantinnen und Emigranten aus dem Deutschen Reich die Behörden. Seit 1933 und insbesondere nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 nahm die Zahl der Flüchtlinge sprunghaft zu. Im Juli 1938 wurde auf Initiative von US-Präsident Franklin D. Roosevelt in Évian am Genfersee eine internationale Flüchtlingskonferenz einberufen. Der Chef der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), Heinrich Rothmund, nahm als Schweizer Delegierter daran teil. Verschiedene Dokumente zeigen die Haltung der Bundesbehörden zur Konferenz von Évian und deren Resultaten (dodis.ch/46507, dodis.ch/46522, dodis.ch/46606 und dodis.ch/46613).

Einführung des «J»-Stempels

Im September 1938 kam es zum Abschluss eines deutsch-schweizerischen Abkommens, das die Einreise jüdischer Auswanderer aus dem Deutschen Reich regelte. Darin wurde festgehalten, dass die «Pässe von reichsangehörigen Juden […] mit einem Merkmal versehen werden, das den Inhaber als Juden kennzeichnet» (dodis.ch/15384). Das Merkmal sollte später als «J»-Stempel bekannt werden.

Was wusste «man» – und ab wann?

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni und dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 erreichten die Kriegshandlungen, aber auch die Verfolgungen der Jüdinnen und Juden Europas, eine völlig neue Phase. Ein zentraler Faktor, um die Handlungsspielräume der damaligen Entscheidungsträger einschätzen zu können, ist die Frage, ab wann die Behörden von der gezielten Vernichtungspolitik der Nazis wussten. Die Akten des Aussenministeriums – des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD) – zeigen, dass die Entscheidungsträger in Bern schon relativ früh über die Gräueltaten an der Ostfront informiert waren.

Diplomatenberichte über die Vernichtungspolitik Ende 1941

Bereits im November und Dezember 1941 liess der schweizerische Konsul in Köln, Franz-Rudolph von Weiss, dem EPD Berichte über die Deportationen deutscher Juden nach Osteuropa (dodis.ch/47311, dodis.ch/11981 und dodis.ch/47318) zukommen. Paul Rüegger, Gesandter in Rom, und René de Weck, Gesandter in Bukarest, berichteten über «systematische Verfolgungen» und die versuchte «biologische Vernichtung weiter Teile der Bevölkerung in den besetzten Gebieten» im Osten (dodis.ch/47313 und dodis.ch/47314, Original französisch).

Die Indizien häufen sich: Frühjahr 1942

Auch durch die Berichte deutscher Deserteure erhielten die Behörden im Frühjahr 1942 detaillierte Kenntnisse über Massenerschiessungen von Jüdinnen und Juden in den besetzten Gebieten der Sowjetunion (dodis.ch/11994 und dodis.ch/11995). Im Mai liess Konsul von Weiss dem Nachrichtendienst eine Fotodokumentation über «exekutierte Polen» und über das Ausladen hunderter Leichen von Juden aus deutschen Güterwagen an der «russischen Front» zukommen (dodis.ch/32107 und dodis.ch/32108, Original französisch). Ein Artikel der Forschungsgruppe der DDS in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte rekonstruiert die Geschichte dieser Fotografien.

«Das Boot ist voll»

Im Spätsommer 1942 erhielt die Asylpolitik der Schweiz eine drastische Wendung. Per Präsidialverfügung beschloss der Bundesrat, «künftig […] in vermehrtem Masse Rückweisungen von ausländischen Zivilflüchtlingen» zu veranlassen, «auch wenn den davon betroffenen Ausländern daraus ernsthafte Nachteile (Gefahren für Leib und Leben) erwachsen könnten» (dodis.ch/47408). Bundesrat Eduard von Steiger, Vorsteher des EJPD, verteidigte die Verschärfungen vor dem Nationalrat (dodis.ch/47431). In einer Rede verglich er das Land mit einem «stark besetzte[n] kleine[n] Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen» (dodis.ch/14256), eine Methapher, die unter der Formel «das Boot ist voll» berühmt werden sollte.

Verschärfung der Flüchtlingspolitik

Eine Anzahl Dokumente aus dem EJPD, Berichte (dodis.ch/11987 und dodis.ch/11991) und Direktiven (dodis.ch/11988) sowie das Protokoll einer Konferenz der kantonalen Fremdenpolizeibehörden (dodis.ch/14255) zeigen, auf welchen Grundlagen die Verschärfung der Flüchtlingspolitik beschlossen wurde und wie die Massnahmen umgesetzt wurden.

Brief einer Rorschacher Mädchenklasse

Im September 1942 verfasste eine Mädchenklasse aus Rorschach einen Brief an den Bundesrat, in dem sie gegen die Flüchtlingspolitik protestierte (dodis.ch/12054). Dass sich daraus eine Affäre entwickelte, mit der sich neben von Steiger auch EPD-Vorsteher Marcel Pilet-Golaz beschäftigte, wirft ein besonderes Licht auf die Brisanz des Spannungsfelds zwischen Flüchtlingspolitik und öffentlicher Meinung (dodis.ch/12055, dodis.ch/47424 und dodis.ch/35365).

Juden in Frankreich

Ebenfalls im Frühherbst 1942 protestieren die diplomatischen Vertreter der Schweiz gegen eine Reihe von Massnahmen des Vichy-Regimes gegen jüdische Kinder, die in Heimen des Schweizerischen Roten Kreuzes in Frankreich untergebracht waren (dodis.ch/47420). Auch das Schicksal schweizerischer Jüdinnen und Juden in den besetzten Gebieten Nordfrankreichs beschäftigte das EPD (dodis.ch/47454 und dodis.ch/47454).

Ab September 1943 wusste Bern um die Existenz von Vernichtungslagern

Aufschlussreich für den Wissensstand der Behörden sind auch die Dokumente um die durch polnische Diplomaten in Bern organisierte, versuchte Durchschleusung jüdischer Flüchtlinge aus dem Generalgouvernement nach Lateinamerika (dodis.ch/47624 und dodis.ch/11959) im Herbst 1943. Aus einer Besprechungsnotiz wird klar, dass etwa Rothmund über die Existenz von «Vernichtungslagern» informiert war (dodis.ch/11958).

Entsetzen über die Vernichtung des ungarischen Judentums

Nach der deutschen Besetzung Ungarns im März 1944 gerieten auch die dortige Jüdinnen und Juden in den Sog des Holocausts. Kirchenkreise, die Presse, aber auch die breite Schweizer Öffentlichkeit, reagierten entsetzt auf «die gegenwärtig im Gange sich befindende Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Ungarns» (dodis.ch/11977, dodis.ch/11978, dodis.ch/47775 und dodis.ch/47828). Anhand von Berichten jüdischer Flüchtlinge verfügten die Behörden damals schon über detaillierte Informationen zum Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (dodis.ch/11979).

Rettungsaktion von Vizekonsul Carl Lutz

Eine Reihe von Dokumenten geben Aufschluss über die Tätigkeit von Carl Lutz (dodis.ch/47896, dodis.ch/14325, dodis.ch/14326 und dodis.ch/14327). Vizekonsul Lutz leitete die Schutzmacht-Abteilung der Schweizer Gesandtschaft in Budapest, die die Interessen Grossbritanniens, der USA und zwölf weiterer kriegführender Staaten vertrat. Weit über sein Mandat hinaus stellte Lutz im Kriegswinter 1944 für ungarische Jüdinnen und Juden Pässe und Schutzbriefe für die Auswanderung nach Palästina aus und konnte so Zehntausende vor der Deportation in die Vernichtungslager retten.

Hilfsaktionen für KZ-Überlebende

Nach Kriegsende im Frühjahr 1945 wurden verschiedene ehemalige KZ-Insassen, Kriegsgefangene, Deportierte, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vorübergehend zu Erholungszwecken in der Schweiz hospitalisiert. Für viele war die Schweiz ein Transitland für die Emigration nach Palästina oder Übersee (dodis.ch/48020, dodis.ch/48020, dodis.ch/48038, dodis.ch/1705 und dodis.ch/320). Auch bei der vorübergehenden Aufnahme von «Buchenwald-Kindern» stand für die Behörden das «moralische Interesse» den Befürchtungen gegenüber, dass es schwierig sein würde, die ehemaligen KZ-Häftlinge bald wieder «loszuwerden» (dodis.ch/13, Original französisch, dodis.ch/1714, dodis.ch/2182 und dodis.ch/2183).